Bild/Illu/Video: Julia Kulewatz

«Novembre» - Fragmente einer zyklisch vergehenden Liebe

So beginnt Gustave Flauberts «Novembre», welches ich einmal im Jahr, immer im Monat November lese, seit ich 15 war. Ich bin dann wieder 15 Jahre alt, bin zugleich all die Jahre, in denen ich es gelesen habe. Jedes Jahr liest es sich anders und gleichzeitig hangele ich mich an den kunstvoll geschwungenen Sätzen des französischen Schriftstellers wie an einer mit Efeu und rotem, wilden Wein überrankten Hängebrücke entlang, wissend, die im Buch beschrieben Liebe, in x-beliebigen Fragmenten, wie es in der deutschen Übersetzung von Helmut Bartuschek heißt, wird nicht halten. Trotzdem berührt sie nicht weniger, sondern wird mit jedem Lesen tiefer. Der November ist ein poetischer Monat, der uns mit der Schönheit und Anmut des Vergehens direkt konfrontiert. Zuweilen hat man Gustave Flauberts «Novembre» mit Goethes Werther verglichen, ihn gar einen französischen Werther genannt. Heinrich Mann bezeichnet Flaubert in seinem Spätwerk als «den Heiligen des Romans». Mit nur einundzwanzig Jahren widmet sich der damals junge Student, Gustave Flaubert, dem melancholischen Monat ganz. Sein «Novemberheld» hält einem Heldenepos nicht stand, er vergeht noch mit einem Bein in und an der Welt, durch die er sich unaufhörlich und ruhelos bewegen muss. Immer wieder sucht er dann die Einsamkeit, die er zugleich verflucht, ohne jemals in ihr Fuß fassen zu können. Einziger Ausweg scheint eine große, zur Unsterblichkeit verdammte Liebe, in der ich heute, im Monat November lesen kann; «Paris», die Eine, fiebernd, leidenschaftlich lasterhaft, hemmungslos, erotisch verderbt und berückend schön. Wir erfahren die Stadt aus der ruhelosen Sicht des Ich-Erzählers, durchstreifen sie gemeinsam mit ihm, Raubzügen gleich in Tagebucheinträgen, an Novembertagen. Die Zeit vergeht am Kalender, richtet sich zyklisch aus an ihm. Im «Novembre» verschwendet sich eine einzige, eine unersättliche, eine letzte Liebe an der Prostituierten Marie völlig bis in ein unsterbliches Ende hinein. Menschen gleiten gezeichnet und wie nur leichte Skizzenstriche am Ich-Erzähler vorüber, der nur seine Wege kennt, fast privat mutet sein November an, der erst nach dem Tod des Autors 1910 in Paris erschien. «Novembre» dokumentiert das poetische Vermächtnis als das Bekenntnis eines an der Liebe Leidenden. Der Monat November erscheint an einen großen Schmerz gekoppelt, wenn nicht gar aus diesem geboren. Zu seiner Zeit ist dieses Buch unbekannt gewesen, ganz im Gegenteil zu Goethes «Werther» als das deutsche Gegenstück zu Flauberts «Novembre», siebzig Jahre zuvor. Der Untertitel behauptet provokativ, dass es sich lediglich um «Bruchstücke ohne nennenswerten Stil» handelt. Das Buch greift sich ab, wie ich jetzt mit Fotos beweisen kann. Doch die bildhaften Fragmente schreiben sich ein, verbinden sich mit der frühen Dunkelheit süßlich vertrockneter Rosenblätter bei Kerzenschein und all den Nachmittagen und Abenden, die ich im November über Liebe lesend verbracht habe.

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