Lesetipp: «Tagebuch für später»
Bild/Illu/Video: Julia Kulewatz

Lesetipp: «Tagebuch für später»

Viele haben das literarische Schreiben mit persönlichen Aufzeichnungen, mit dem eigenen Tage- oder Notizbuch begonnen. Heute vermischt sich das auch noch mit dem so genannten Journaling. Und wir wissen nicht mehr: Was ist ein Tagebuch, was ein Notizbuch oder -heft und wo beginnt die Journalführung?


Der Leipziger Liedermacher und ausgebildete Landschaftsgärtner Jörn Hühnerbein hat dieses neumodische Dilemma in seinen Buchtitel «Tagebuch für später» (kul-ja! publishing, 2. Auflage Sept. 2022) integriert. Es findet eine Hinterfragung statt, später.


Er versammelt in diesem mintgrünen Büchlein mit der frechen Fliege auf dem Cover 61 wundersame bis wunderlich skurrile kurzprosaische Meisterlichkeiten des ganz normalen, man könnte fast sagen des alltäglichen Wahnsinns, der sogar «Im Kühlschrank» als «Feenbraten» lauern kann. Hühnerbein präsentiert uns ungeschönt «Die traurigste Geschichte des Landes», immer wieder «Nachbarn» und sogar «Ein Wintermärchen» der ganz und gar anderen Art. Selbst vor «Tee mit Putin» schreckt er nicht zurück. Das «Tagebuch für später» hält fest: «Wladimir, der uns inzwischen das Du angeboten hatte, stellte uns in Aussicht, das noch von N`s Mutter bewohnte Anwesen in R. für 1,2 Millionen abzukaufen.» Weiter heisst es «Er bräuchte es, um in dem atomsicheren Keller eine Abhörzentrale einzurichten und um die obere Etage als Datscha für entspannte Kurzurlaube im Osten Deutschlands für sich zu nutzen.»


Der Leipziger Sprachvirtuose Thomas Kunst vergleicht Hühnerbeins Erzählkunst mit Kurt Kusenberg, während er dessen Texte als «unbeirrbar, versponnen und eigensinnig» beschreibt. Es braucht Mut, um von «Gebrauchten Träumen» und «Tee mit Putin» zu schreiben und zu lesen. Im «Tagebuch» begegnen sich Leser und Erzählstimme(n) in der Intimität einer Einraumwohnung. Bei Kerzenlicht lauschen sie dem Summen einer fingierten Fliege, die mehr zu wissen scheint als all die Genervten und ihre Fressfeinde. Wir erfahren es taktlos, gar nicht, oder noch schlimmer: später.


Ein wahrhaftiges Lesevergnügen, das spontane Entgleiten gut einstudierter Gesichtszüge garantiert.


Julia Kulewatz ist studierte Literaturwissenschaftlerin, Autorin und lesebegeisterte Verlegerin.

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