Sekundenschlaf
«Man kann es echt auch übertreiben», dachte sich Flavio, als er in die Küche schlenderte und von seiner Frau Sarah komplett ignoriert wurde. Logisch war er in den letzten Monaten oft lange weg gewesen wegen dem neuen Job. Doch neben diesen kleinen zeitlichen Entbehrungen war da auf einmal etwas vorhanden, was sie als junge Familie zuvor an den Rand des Wahnsinns gebracht hatte, nämlich eine finanzielle Sicherheit. Von so viel Geld, wie inzwischen monatlich auf seinem Konto eintrudelte, hätte er nicht in seinen wildesten Visionen zu träumen gewagt. Und auch wenn Sarah immer wieder erwähnte, dass Geld nicht alles ist, machte es eben schon einen Unterschied, ob man zwei Mal im Jahr oder gar nicht am Meer gewesen war. Doch auch für ihn war Geld nicht der Hauptmotivator, sondern viel mehr der Fakt, dass er in dieser neuen Techfirma endlich wahrgenommen wurde und über Freiheiten verfügte, die ihm zuvor jahrelang verwehrt geblieben sind. Dies machte es für ihn irgendwie schwierig abzuschalten. Es war schon immer ein rechter Drahtseilakt, dieses Finden einer Work-Life-Balance, vor allem wenn sich die Arbeit nicht wirklich wie Arbeit anfühlt.
«Was ist denn wieder los», fragte Flavio seine Sarah. Doch seine Worte verhallten unerwidert in der neuen Küche, die sie erst gerade vor kurzem erworben hatten. Irgendwie schien seine Liebste nicht nur abweisend, sondern fast auch ein wenig abwesend zu sein. Ihr leerer Blick ging durch ihn hindurch, als ob er unsichtbar wäre. Vielleicht war sie immer noch wütend auf ihn, da er in der vergangenen Nacht, als der Kleine nach einem Fläschchen geschrien hat, dies im Nebel der Müdigkeit leider überhört hatte und wieder sie aufstehen musste. Das Eltern sein hatten Sarah und er sich auch leichter vorgestellt als es letztendlich wurde. Sie hatten extra ein paar Jahre länger gewartet, so dass niemand mit unerfüllten Träumen irgendwann dem eigenen Nachwuchs Vorwürfe machen musste und doch waren sie erstaunlich schlecht auf einen Jungen wie Noah vorbereitet, der praktisch auf jegliche Dinge allergisch reagierte und zudem auch sehr schlecht schlief. So konnte es durchaus auch mal sein, dass beide Eltern ratlos um drei Uhr in der Nacht mit einem schreienden Baby konfrontiert waren, für welches es einfach kein Rezept zur Beruhigung gab.
Flavio versuchte es mit einem «Es tut mir leid», doch auch
damit biss er bei Sarah auf Granit. Irgendwas musste vorgefallen sein, dass sie
ihm mit einer Wand des Schweigens begegnete. War er jetzt auch so einer von den
Männern, die vor lauter Job und Baby nicht bemerkt hatte, wie sich seine
Angetraute immer mehr von ihm entfremdete. Hatten sie sich, ohne es zu merken
vielleicht sogar auseinandergelebt? Flavio hatte immer über solche Menschen
gelacht, die das Wort Treue nur aus Filmen kannten und sich alles schnappten,
was nicht bei drei auf den Bäumen ist. Er konnte sich das nie vorstellen. Flavio
war noch so ein Gentleman der alten Schule, der wenn er einmal zu einer Frau ja
gesagt hatte, auch dazu stand und bis zum letzten Atemzug immer an ihrer Seite
stand. Die Angebote waren schon da und hin und wieder dachte er auch darüber
nach, wie hart die Konsequenzen für ihn denn sein würden. Doch dadurch, dass er
ein Mensch war, der extrem schlecht lügen konnte und meist sofort entlarvt
wurde, blieben die Angebote einfach Angebote und nicht mehr. Doch was, wenn
seine Sarah sich vielleicht einen anderen gesucht hatte? Er selbst war häufig
unterwegs und seit sie Mutter geworden war, hatte sie in seinen Augen neben ein
paar wenigen Pfunden vor allem an Attraktivität zugelegt. Das war sicher auch
nicht den jungen Typen in der Umgebung entgangen, bei denen Sarah sicherlich regelmässig
als neue «Milf» süsse Träume und wilde Phantasien bescherte. Doch was wäre, wenn
die Fiktion auf einmal die Realität einholt und sie sich plötzlich mit einem
dieser «Schluffis» im Bett vergnügt?
Flavio befürchtete, dass nach den ganzen Streitereien jetzt wohl der Moment der
Eskalation gekommen war, als plötzlich das Handy von Sarah klingelte. Mit einem
etwas abwesenden «Ja» nahm sie den Anruf an. «Frau Feldmann, hier ist nochmals
Meier von der Kantonspolizei Graubünden. Vielen Dank für die Identifizierung
ihres Mannes Esra. Die Autopsie hat ergeben, dass weder Alkohol noch Drogen im
Spiel gewesen sind. Wir gehen davon aus, dass ihr Mann am Steuer eingeschlafen
ist, ein klassischer Fall von Sekundenschlaf. Es tut mir sehr leid…»