Sekundenschlaf
Bild/Illu/Video: Eric Ward

Sekundenschlaf

«Man kann es echt auch übertreiben», dachte sich Flavio, als er in die Küche schlenderte und von seiner Frau Sarah komplett ignoriert wurde. Logisch war er in den letzten Monaten oft lange weg gewesen wegen dem neuen Job. Doch neben diesen kleinen zeitlichen Entbehrungen war da auf einmal etwas vorhanden, was sie als junge Familie zuvor an den Rand des Wahnsinns gebracht hatte, nämlich eine finanzielle Sicherheit. Von so viel Geld, wie inzwischen monatlich auf seinem Konto eintrudelte, hätte er nicht in seinen wildesten Visionen zu träumen gewagt. Und auch wenn Sarah immer wieder erwähnte, dass Geld nicht alles ist, machte es eben schon einen Unterschied, ob man zwei Mal im Jahr oder gar nicht am Meer gewesen war. Doch auch für ihn war Geld nicht der Hauptmotivator, sondern viel mehr der Fakt, dass er in dieser neuen Techfirma endlich wahrgenommen wurde und über Freiheiten verfügte, die ihm zuvor jahrelang verwehrt geblieben sind. Dies machte es für ihn irgendwie schwierig abzuschalten. Es war schon immer ein rechter Drahtseilakt, dieses Finden einer Work-Life-Balance, vor allem wenn sich die Arbeit nicht wirklich wie Arbeit anfühlt.


«Was ist denn wieder los», fragte Flavio seine Sarah. Doch seine Worte verhallten unerwidert in der neuen Küche, die sie erst gerade vor kurzem erworben hatten. Irgendwie schien seine Liebste nicht nur abweisend, sondern fast auch ein wenig abwesend zu sein. Ihr leerer Blick ging durch ihn hindurch, als ob er unsichtbar wäre. Vielleicht war sie immer noch wütend auf ihn, da er in der vergangenen Nacht, als der Kleine nach einem Fläschchen geschrien hat, dies im Nebel der Müdigkeit leider überhört hatte und wieder sie aufstehen musste. Das Eltern sein hatten Sarah und er sich auch leichter vorgestellt als es letztendlich wurde. Sie hatten extra ein paar Jahre länger gewartet, so dass niemand mit unerfüllten Träumen irgendwann dem eigenen Nachwuchs Vorwürfe machen musste und doch waren sie erstaunlich schlecht auf einen Jungen wie Noah vorbereitet, der praktisch auf jegliche Dinge allergisch reagierte und zudem auch sehr schlecht schlief. So konnte es durchaus auch mal sein, dass beide Eltern ratlos um drei Uhr in der Nacht mit einem schreienden Baby konfrontiert waren, für welches es einfach kein Rezept zur Beruhigung gab.


Flavio versuchte es mit einem «Es tut mir leid», doch auch damit biss er bei Sarah auf Granit. Irgendwas musste vorgefallen sein, dass sie ihm mit einer Wand des Schweigens begegnete. War er jetzt auch so einer von den Männern, die vor lauter Job und Baby nicht bemerkt hatte, wie sich seine Angetraute immer mehr von ihm entfremdete. Hatten sie sich, ohne es zu merken vielleicht sogar auseinandergelebt? Flavio hatte immer über solche Menschen gelacht, die das Wort Treue nur aus Filmen kannten und sich alles schnappten, was nicht bei drei auf den Bäumen ist. Er konnte sich das nie vorstellen. Flavio war noch so ein Gentleman der alten Schule, der wenn er einmal zu einer Frau ja gesagt hatte, auch dazu stand und bis zum letzten Atemzug immer an ihrer Seite stand. Die Angebote waren schon da und hin und wieder dachte er auch darüber nach, wie hart die Konsequenzen für ihn denn sein würden. Doch dadurch, dass er ein Mensch war, der extrem schlecht lügen konnte und meist sofort entlarvt wurde, blieben die Angebote einfach Angebote und nicht mehr. Doch was, wenn seine Sarah sich vielleicht einen anderen gesucht hatte? Er selbst war häufig unterwegs und seit sie Mutter geworden war, hatte sie in seinen Augen neben ein paar wenigen Pfunden vor allem an Attraktivität zugelegt. Das war sicher auch nicht den jungen Typen in der Umgebung entgangen, bei denen Sarah sicherlich regelmässig als neue «Milf» süsse Träume und wilde Phantasien bescherte. Doch was wäre, wenn die Fiktion auf einmal die Realität einholt und sie sich plötzlich mit einem dieser «Schluffis» im Bett vergnügt?

Flavio befürchtete, dass nach den ganzen Streitereien jetzt wohl der Moment der Eskalation gekommen war, als plötzlich das Handy von Sarah klingelte. Mit einem etwas abwesenden «Ja» nahm sie den Anruf an. «Frau Feldmann, hier ist nochmals Meier von der Kantonspolizei Graubünden. Vielen Dank für die Identifizierung ihres Mannes Esra. Die Autopsie hat ergeben, dass weder Alkohol noch Drogen im Spiel gewesen sind. Wir gehen davon aus, dass ihr Mann am Steuer eingeschlafen ist, ein klassischer Fall von Sekundenschlaf. Es tut mir sehr leid…» 

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