Inselumrundung Teil 6: «Letzte Etappe einer Inselumrundung»
Noch im Halbschlaf begann ich meine Dinge in den Rucksack einzupacken. Ich hatte in einem heruntergekommenen Haus übernachtet, das offensichtlich häufig von anderen dazu benutzt wurde Zeichnungen an die Wände zu malen und sprayen. Auch einige Matratzen hatte ich am Vorabend noch entdeckt. Völlig unerwartet trat ein alter Mann mit langen weissen Haaren und einem weissen Vollbart in mein Blickfeld. Ich erschrak beinahe, lächelte dann aber und nickte verstehend, als er mir mit seinen Händen zeigte, dass er einer der Künstler war, die dieses Haus für ihre Zwecke nutzten. So liessen wir einen gewähren ohne in die Freiheit des anderen einzugreifen.
Zwei Extreme
Später marschierte ich mit gepacktem Rucksack zum nächstgelegensten Supermarkt und versorgte mich mit Esswaren für die kommenden zwei Tage. Mein Ziel lag rund 25 Kilometer entfernt in der Inselhauptstadt San Sebastian. Ich nahm an, dass dies meine letzte Tagesetappe sein würde, nahm aber trotzdem genug Wasser für zwei Tage mit, falls ich mich täuschen sollte. Der Weg führte mich an einigen Luxushotels und einem Golf- sowie Tennisplatz vorbei, die ich voller Verachtung betrachtete. Während die Insel seit einigen Jahren unter ständigem Wassermangel litt, wurde hier ein riesiger Golfplatz unterhalten und verbrauchte dabei Mengen an Wasser, die man anders und meiner Meinung nach besser hätte einsetzen können, als für reiche Touristen.
Alleine stapfte ich durch die vertrocknete Landschaft und machte erst auf einer Anhöhe bei einem halb zerfallenen Haus Halt, wo ich mich in den schattenspendenden Türrahmen setzte und die heissesten Stunden des Tages verstreichen liess. Die schweissgetränkte Kleidung und die Schuhe legte ich zum Trocknen in die Sonne. Nach einem kurzen Schläfchen und einem Mittagessen, beschloss ich weiterzugehen. Ich ging Stunde um Stunde im Gleichklang der Schritte und versank dabei tiefer und tiefer in der Stille der Welt um mich herum. Anders als am Vortag hatte ich keinen Gedankenüberfluss zu ertragen, sondern trug die Stille ebenso in mir selbst.
Ein Ort für die Ewigkeit
Das Meer schien weit weg und doch zum Greifen nahe, das Blau des Urwassers wurde nur durch das Weiss der brechenden Wellen unterbrochen. Wie viele Tiere mochten sich bloss dort draussen befinden? Von aussen betrachtet erschien mir das Meer als ob es nur eine blaue Fläche wäre, doch dabei befand sich so viel mehr unter der Oberfläche. Das Äussere ist nicht wichtiger als das Innere, als das Wichtigste im Leben empfinde ich die Symbiose der beiden. Nur wenn Körper und Geist im Einklag zueinander leben und jeder Teil zuhört und zulässt ist die Welt in Ordnung. Diese Ordnung in mir und in der Welt fand ich auf La Gomera, wie noch nirgends zuvor in meinem bisherigen Dasein. So gern bliebe ich für immer in diesem Zustand an diesem Ort, doch ich wusste, dass ich grösstes Glück nur dann wieder würde erleben dürfen, wenn dazwischen das Leid hin und wieder die Oberhand gewänne.
Angst und Vertrauen
Wie viele Menschen unternehmen in ihren Leben nie etwas wovor sie Angst empfinden? Wie viele bleiben ein Leben lang in ihrer Komfortzone und wagen sich nie daraus heraus? Wie trostlos mir dieses Leben erscheint, wie ein Gefängnis der eigenen Furcht, und so vertraue ich darauf, dass diese Reise nicht meine letzte gewesen sein würde. La Gomera war das erste Paradies, das mir zuteil wurde. Ich musste mich auf die Insel einlassen, wollte und musste mich hingeben, um den Rhythmus der Insel und der Menschen zu erfahren.
So begann ich danach zu leben und gedeihte wie eine Blume an Regen und Sonnenschein unter der Stille und Eigentümlichkeit der Orte. Ich ging bis ich an einen Ort kam, der mir für eine Übernachtung geeignet aussah. Dort traf ich auf einen älteren deutschen Mann, der drei Wochen lang in einer Höhle schlief und die Gegend erwanderte. Wir verstanden uns auf Anhieb und unterhielten uns so lange bis die Sonne schon fast ganz hinter dem Horizont verschwunden war. Danach richtete ich mir meinen Schlafplatz in einer Höhle ein und legte mich bald darauf schlafen.
Letzte Schritte
Die Sonne strahlte durch den Türrahmen der Höhle hinein. Nach einem ausgiebigen Morgenessen und einem weiteren sehr angeregten Gespräch mit Georg, dem deutschen Feriengast, hiess es für mich Abschied zu nehmen. Ich trat die letzte Etappe meiner Reise an und genoss jeden Augenblick davon, obwohl mir jeder Knochen und jeder Muskel schmerzte. Durch zwei der abgeschiedensten Täler der Insel hinurchstampfend sann ich über die Inselumrundung nach. In acht Tagen hatte ich über 130 Kilometer Wanderweg ergangen und war über 5000 Meter hinauf und hinabgestiegen. Als San Sebastian in mein Blickfeld rückte jauchzte ich laut vor Freude und riss die Arme empor, legte den Kopf in den Nacken und flüsterte dann leise traurig aber zufrieden zu mir selbst: geschafft.