Inselumrundung Teil 1: «Pfad ins Ungewisse»
Meine erste Etappe führte mich von der Inselhauptstadt San Sebastian nach
Hermigua, einen Ort im Norden der Insel. Bevor ich losging, dehnte ich, wie
jeden Morgen meinen Körper eine gute halbe Stunde lang, um das Risiko von
Verletzungen und Schmerzen durch das stundenlange Gehen zu vermindern. Wie sich
jedoch herausstellen sollte, kamen die Schmerzen Tag für Tag wieder und wieder
und sie blieben. Was mir bevorstand war ein Abenteuer wie aus dem Bilderbuch.
30 km weit und durch ein halbes Dutzend Täler hindurch würde mich der Wanderweg
führen.
Beginn des Abenteuers
Von San Sebastian aus ging ich auf steilen Pfaden durch
ein Tal ums andere hinauf zum Sattel und wieder hinunter in die Ebene. Einmal
musste ich auf halber Höhe einer steilen Felswand nahe eines tiefen Abgrunds
entlanggehen. Ich ging sozusagen durch die Felswand. Angst durchströmte mich
beim Gedanken an einen Absturz. Der Pfad war regengetränkt. Glitschig fühlten
sich die Steine und die Erde unter meinen Füssen an. Mitten in einer solchen
Felswand erfasste mich ein plötzlicher Regenschauer. Nichts konnte ich tun,
ausser zu warten. Ich konnte keinen Schritt weitergehen, weil ich durch meine
tropfnasse Brille keinen Meter weit sah. Plötzlich kam Wind auf. Der Regen
peitschte mir um den Körper. Kaum fünf Minuten später war der ganze Spuk vorbei
und die Sonne schien wieder, so als wäre nichts geschehen. Ausgesetzt zu sein
in die Angst, wird vom Gefühl des Vertrauens in die Ungewissheit übertroffen.
Alle, die sich irgendwie ausgesetzt haben oder ausgesetzt worden sind, und
nicht mehr zurückkönnen, nur vorwärts und weiter hinein ins Ungewisse,
verlieren jegliche Angst, weil der Ausgang des Tuns unausweichlich geworden
ist. Das Sein wird klar, das Tun ohne Hast und Unüberlegtheit, ohne Angst und
Sorge - einfach frei.
Sinnerlebnis par excellence
Ich ging weiter meines Weges und nahm mit allen meinen Sinnen die Welt mit einem Mal bewusst war. Um mich herum sah ich einzig und allein nackte, vom Menschen gänzlich unberührte Natur. Meine Augen suchten das Sichtfeld bis zum Horizont ab, bis ich feststellte, dass ich der einzige im Umkreis von mehreren Kilometern zu sein schien. Ich hatte ein ganzes Tal für mich alleine. Ein Traum, der in Erfüllung ging. Ich jauchzte und lachte, die Tränen traten mir in die Augen vor Freude und ich hob die Hände in den Himmel, um Danke zu sagen. Wenn ich mich nicht rührte und so ruhig wie möglich atmete, dann hörte ich zeitweise nichts.
Während des Gehens war es mein eigener Schritt
auf Felsgestein, Kiesel oder Erde, der mein Ohr erfüllte. Dann und wann
kreischte ein Vogel am Himmel. Hin und wieder traf ich auf Ziegen, von denen
ich annahm, sie wären wild, weil sie mich dermassen scheuten, wie ich es
zuhause nie erlebt hatte. Da niemand sah, was ich tat, sprach ich mit den
Ziegen und erzählte ihnen wie schön ihre Welt ist und dass sie es bei uns in
der Schweiz kaum besser hätten. Manche der Ziegen blieben verdutzt stehen und
glotzten mich mit weit aufgerissenen Augen an, andere zogen es vor gleich zu
Beginn meiner Ansprache das Weite zu suchen. Dem verbliebenen Publikum teilte
ich mich in aller Ausführlichkeit mit, erzählte Geschichten und argumentierte
mit mir selbst. Irgendwann verabschiedete ich mich und ging weiter meines
Weges.
Regen wie aus Kübeln
Als ich etwa die Hälfte der Tagesetappe gelaufen war,
goss es plötzlich erneut wie aus Kübeln. Doch diesmal war es anders, denn nach
zehn Minuten regnete es weiterhin und auch nach einer Dreiviertelstunde hatte
es noch nicht aufgehört zu regnen. Ich verzog mich unter einen Felsvorsprung
und zitterte mich aus Nässe und Kälte wieder warm. Nach einer Stunde und nach
einer Malzeit, bei der ich alles verschlang, was ich an Esswaren mitgebracht
hatte, hörte es auf zu regnen und machte innert kürzester Zeit einem blauen
Himmel und dem Sonnenschein platz. Ich ging weiter und während ich ging,
trocknete mir die Kleidung auf dem Körper. Als sie ganz trocken war, und dazu
musste es scheinbar unweigerlich kommen, fing es erneut an zu regnen. Diesmal
war es mir egal, und so ging ich durch strömenden Regen, Schritt um Schritt
meinem Ziel entgegen.
Bevor ich nach Hermigua abstieg, ging ich einige Kilometer eine steile Wand in Serpentinen hinunter und machte an einer Klippe über dem Meer mit Aussicht auf Teneriffa eine lange Pause. Ich hatte keine Eile und musste nirgendwo hin, der Tag gehörte mir und ich nutzte ihn wie es mir gefiel. Zwei Stunden später erwischte ich den allerletzten Bus zurück nach San Sebastian und verbrachte dort eine letzte Nacht im Hostel, bevor ich für einige Tage draussen schlafen würde. Körperlich war ich völlig ausgezehrt und wünschte mich in jenem Moment nur noch ins Bett.