Inselumrundung Teil 1: «Pfad ins Ungewisse»
Bild/Illu/Video: Lucas J. Fritz

Inselumrundung Teil 1: «Pfad ins Ungewisse»

Meine erste Etappe führte mich von der Inselhauptstadt San Sebastian nach Hermigua, einen Ort im Norden der Insel. Bevor ich losging, dehnte ich, wie jeden Morgen meinen Körper eine gute halbe Stunde lang, um das Risiko von Verletzungen und Schmerzen durch das stundenlange Gehen zu vermindern. Wie sich jedoch herausstellen sollte, kamen die Schmerzen Tag für Tag wieder und wieder und sie blieben. Was mir bevorstand war ein Abenteuer wie aus dem Bilderbuch. 30 km weit und durch ein halbes Dutzend Täler hindurch würde mich der Wanderweg führen.

Beginn des Abenteuers

Von San Sebastian aus ging ich auf steilen Pfaden durch ein Tal ums andere hinauf zum Sattel und wieder hinunter in die Ebene. Einmal musste ich auf halber Höhe einer steilen Felswand nahe eines tiefen Abgrunds entlanggehen. Ich ging sozusagen durch die Felswand. Angst durchströmte mich beim Gedanken an einen Absturz. Der Pfad war regengetränkt. Glitschig fühlten sich die Steine und die Erde unter meinen Füssen an. Mitten in einer solchen Felswand erfasste mich ein plötzlicher Regenschauer. Nichts konnte ich tun, ausser zu warten. Ich konnte keinen Schritt weitergehen, weil ich durch meine tropfnasse Brille keinen Meter weit sah. Plötzlich kam Wind auf. Der Regen peitschte mir um den Körper. Kaum fünf Minuten später war der ganze Spuk vorbei und die Sonne schien wieder, so als wäre nichts geschehen. Ausgesetzt zu sein in die Angst, wird vom Gefühl des Vertrauens in die Ungewissheit übertroffen. Alle, die sich irgendwie ausgesetzt haben oder ausgesetzt worden sind, und nicht mehr zurückkönnen, nur vorwärts und weiter hinein ins Ungewisse, verlieren jegliche Angst, weil der Ausgang des Tuns unausweichlich geworden ist. Das Sein wird klar, das Tun ohne Hast und Unüberlegtheit, ohne Angst und Sorge - einfach frei.

Sinnerlebnis par excellence

Ich ging weiter meines Weges und nahm mit allen meinen Sinnen die Welt mit einem Mal bewusst war. Um mich herum sah ich einzig und allein nackte, vom Menschen gänzlich unberührte Natur. Meine Augen suchten das Sichtfeld bis zum Horizont ab, bis ich feststellte, dass ich der einzige im Umkreis von mehreren Kilometern zu sein schien. Ich hatte ein ganzes Tal für mich alleine. Ein Traum, der in Erfüllung ging. Ich jauchzte und lachte, die Tränen traten mir in die Augen vor Freude und ich hob die Hände in den Himmel, um Danke zu sagen. Wenn ich mich nicht rührte und so ruhig wie möglich atmete, dann hörte ich zeitweise nichts.


Während des Gehens war es mein eigener Schritt auf Felsgestein, Kiesel oder Erde, der mein Ohr erfüllte. Dann und wann kreischte ein Vogel am Himmel. Hin und wieder traf ich auf Ziegen, von denen ich annahm, sie wären wild, weil sie mich dermassen scheuten, wie ich es zuhause nie erlebt hatte. Da niemand sah, was ich tat, sprach ich mit den Ziegen und erzählte ihnen wie schön ihre Welt ist und dass sie es bei uns in der Schweiz kaum besser hätten. Manche der Ziegen blieben verdutzt stehen und glotzten mich mit weit aufgerissenen Augen an, andere zogen es vor gleich zu Beginn meiner Ansprache das Weite zu suchen. Dem verbliebenen Publikum teilte ich mich in aller Ausführlichkeit mit, erzählte Geschichten und argumentierte mit mir selbst. Irgendwann verabschiedete ich mich und ging weiter meines Weges.

Regen wie aus Kübeln

Als ich etwa die Hälfte der Tagesetappe gelaufen war, goss es plötzlich erneut wie aus Kübeln. Doch diesmal war es anders, denn nach zehn Minuten regnete es weiterhin und auch nach einer Dreiviertelstunde hatte es noch nicht aufgehört zu regnen. Ich verzog mich unter einen Felsvorsprung und zitterte mich aus Nässe und Kälte wieder warm. Nach einer Stunde und nach einer Malzeit, bei der ich alles verschlang, was ich an Esswaren mitgebracht hatte, hörte es auf zu regnen und machte innert kürzester Zeit einem blauen Himmel und dem Sonnenschein platz. Ich ging weiter und während ich ging, trocknete mir die Kleidung auf dem Körper. Als sie ganz trocken war, und dazu musste es scheinbar unweigerlich kommen, fing es erneut an zu regnen. Diesmal war es mir egal, und so ging ich durch strömenden Regen, Schritt um Schritt meinem Ziel entgegen.

Bevor ich nach Hermigua abstieg, ging ich einige Kilometer eine steile Wand in Serpentinen hinunter und machte an einer Klippe über dem Meer mit Aussicht auf Teneriffa eine lange Pause. Ich hatte keine Eile und musste nirgendwo hin, der Tag gehörte mir und ich nutzte ihn wie es mir gefiel. Zwei Stunden später erwischte ich den allerletzten Bus zurück nach San Sebastian und verbrachte dort eine letzte Nacht im Hostel, bevor ich für einige Tage draussen schlafen würde. Körperlich war ich völlig ausgezehrt und wünschte mich in jenem Moment nur noch ins Bett.

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