«Giacometti» im Soundcheck
Bild/Illu/Video: Fabian Florin

«Giacometti» im Soundcheck

Das schlicht als «Intro» betitelte Lied hat bereits einen Videoclip erhalten und ist ein stimmiger Vorgeschmack auf das Kollaboalbum von LIV und Geesbeatz. Auf einem Beat, welcher getragen wird von einem catchy Sample zeigt Livty, für was er und seine QR7000-Jungs auch heute noch stehen. Die Zeilen direkt aus dem Leben machen den kurzweilige Opener sehr hörenswert und schaffen sofort einen direkten Draht zur Hörerschaft. Gross!

Wie eine kleine Stadtführung klingt der Bouncer «Giacometti», der neben Livio Biondinis Evergreens «QR» oder «Hometown» locker bestehen kann. Schön, dass er immer noch so viel über die Bündner Hauptstadt zu erzählen hat. Glücklicherweise sieht LIV dabei seine Heimat nicht durch die rosaroter Brille, sondern erzählt auch von der Stadt als einer der wichtigsten Drogenumschlagsplätze der Schweiz. Die Cuts von DJ Modesty machen das Werk episch und so viel ich weiss, ist das die nächste Videoauskopplung, für die dann der Tourismus Chur auch ruhig mal ein paar Franken in die Hände nehmen könnte.    


Nostalgisch und ein etwas entspannter klingt «Dussa». Hier begrüsst Livty die Raplegende Shape MC von Dynamic Duo und Wrecked Mob. Die Retrospektive geht ans Herz, denn die von den beiden Sprachakrobaten gemalten Bilder entstauben alte Erinnerungen. Es ist ein Stück, das nicht nur die gute alte Zeit, sondern auch die Unbeschwertheit der Jugend, die ersten musikalischen Schritte und die Freundschaft zelebriert. Wunderschön!


«Tüfgarage» ist der unterhaltsame Soundtrack zu einem kriminellen Märchen. Ja, es geht dabei um Drogen, hauptsächlich um Gras… Die Gäste UGR passen wie die Faust aufs Auge zu dem gefährlich anmutenden Beat vom Grossmeister Gees. Ich hoffe doch sehr, dass Sefs, DJ Babon und JP durch dieses Gastspiel neue Motivation schöpfen und auch mal wieder neues Material veröffentlichen. Man hört es hier nämlich sofort, dass ihr leicht aggressiver Stil durchaus eine spannende Bereicherung für die Bündner Rapszene ist.


«Tacheles» ist ein Werk, welches voller Nostalgie trieft und bei dem Livio Biondini tief blicken lässt. Da ich ihn schon über zehn Jahre kenne, kann ich mit gutem Gewissen sagen, dass Livty hier nichts erfindet, sondern schonungslos mit sich und seiner Geschichte abrechnet. Das braucht definitiv Mut, ist aber genau durch diese Ehrlichkeit authentisch und echt. Gross!


Ein weiteres lange erwartetes Wiederhören gibt es auf dem Lied «Wer du bisch». Doe von den Calandaholics beweist mit seiner Lockerheit, dass in Chur noch einige Raptalente schlummern und dass da noch über Jahre hinweg fetter Sound entstehen könnte. Mich dünkt es einfach, dass die Jungs mal einen treibenden Mentor brauchen, damit da endlich auch ein Album von ihnen zu Stande kommt. Die chillige Nummer ist ein entspannter Rapsong, der die Zuhörerschaft zu mehr Eigenständigkeit auffordert. Gleichzeitig lässt das Stück Hoffnung aufkeimen, dass da vielleicht wirklich bald mehr folgen könnte.


Mit «Golden Era» feiern Gees und LIV ihre Musik, den Boom Bap ab. Den Sound ihrer Jugend, welche beide noch heute praktizieren und der dazu gehörende Livestyle wird hier spielerisch beschrieben. Ich glaube, wenn man noch nie ein Lied aus diesem Genre gehört hat, eignet sich dieser Track hier sehr gut als Einstieg. Denn hier wird Atmosphäre geschaffen, Hörbeispiele genannt und ein schwierig zu umschreibendes Zusammengehörigkeitsgefühl locker und einfach verständlich porträtiert. Genau solche Lieder haben mich damals zum Rapfan gemacht.

Ein richtiges Brett ist der Track «Level», bei dem die Jungs SBS und Marcus Aurelius sich die Ehre geben. Auch von ihnen hat man leider schon länger nichts mehr gehört. Für ihre alten Kollegen lassen sie sich nicht lumpen und liefern richtig ab. Sie sind tatsächlich ein richtiges Killerkommando.


Auf «24/7» zeigt die Hip Hop-Qultur wieder mal seine vereinende und verbindende Magie, denn Livty lädt Hyphen von Breitbild und die deutsche Raplegende Separate zum Gastspiel ein. Oft wird in den Medien diskutiert, dass Rap ja eher so ein Jugendding sei. Auf diesem entspannten Meisterwerk beweisen drei Künstler jenseits der 30 aber, dass es da um viel mehr als ums Alter oder die Musik geht. Porträtiert wird ein Lebensgefühl und irgendwie ist es schon schön zu hören, dass hier gleich drei Legenden den Jungspunden zeigen, wie das mit dem Rappen funktioniert.  Beim Part der deutschen Raplegende blitzen sofort wieder Erinnerungen an sein Konzert in Chur auf. Bei unserem Kennenlernen im Mai 2015 war mir sofort klar, dass Seppo sehr viel Liebe in seine Musik fliessen lässt, was ihn sofort sympathisch erscheinen liess. Cool, dass er immer noch Hunger hat und weiterhin so fleissig abliefert.


«Each One» ist ein herrlicher Track, der das Weitergeben von Wissen und Geschick erläutert. Ich wüsste nicht, ob ich selbst je ein Soloalbum auf die Beine gestellt hätte ohne die Unterstützung von Liv, Gees oder D-Beatz. Sie waren meine Mentoren und meinen Dank an sie drücke ich aus, in dem ich versuche mein Wissen ebenfalls an Jüngere weiterzureichen. Das ist für mich das Magische an der Hip Hop-Qultur, von dem sich beispielsweise die leicht egoistische Rockszene durchaus ein Stück abschneiden könnte. Gemeinsam erreicht man definitiv mehr.  

«Molotov» ist ein klassischer Raptrack, der mit Seitenhieben nicht sparsam umgeht und nochmals aufblitzen lässt, welch grandioser Battlerapper Livty eigentlich wäre. Eine Rückkehr in den Ring ist mehr als überfällig.  

Mit Abstand der beste Track auf dem Album ist für mich «Immerno locker». Den habe ich in der Zwischenzeit sicher schon zwanzig Mal gehört und immer wieder entdecke ich neue grandiose Metaphern, welche die beiden Bündner Rapgötter Milchmaa und Vali hier federleicht von sich geben. Auch wenn eine Hook eigentlich aussen vor bleibt, zeigt sich hier, warum Chur immer noch zu den wichtigsten Schweizer Städten gehört, wenn es um Rapmusik geht. Ganz grosses Kino!

«Modus» ist umrahmt von einem gespenstischen Beat, der locker auch als Soundtrack eines Horrorfilms funktionieren könnte. Fett!


Wieder etwas souliger klingt «Tunnelblick», bei dem der Rapper Tha Soloist für internationales Flair sorgt. Sein Part ist eine angenehme Abwechslung auf der Mundartscheibe und harmoniert einwandfrei mit dem Albumkonzept.


«Wunschkonzert» heisst das Werk, auf dem der charmante Herr Möhr aka SM gastiert. Die beiden Rapper, die im Kollektiv mit ihren Produzenten vor drei Jahren als «Churer Gschichta» die Hitparade gestürmt haben, funktionieren nach wie vor stark gemeinsam. Schön, wenn Kollegen sich gegenseitig so ergänzen.


Für ziemlich viel Gänsehaut sorgt der Track «Horizont», bei dem sich LIV, ähnlich wie beim Song «Luftschiff» von der tiefgründigen Seite zeigt. Die Nummer geht direkt unter die Haut, nicht nur thematisch, sondern auch von der Melodie her. Sie zeigt so vor, welch weise Idee die Zusammenarbeit der beiden Künstler gewesen ist. Wow!  

Am Schluss kommt noch der EP-Coverstar Alessandro zum Handkuss. Er bedankt sich fürs Zuhören im «Outro» und erwähnt, dass man sich sicher bald «duna im Lacuna» wiedersehe. LIV sagt ebenfalls tschüss und steht ein letztes Mal für seine Werte ein. Es ist ein Abschluss mit Ausrufezeichen!


Schlussfazit:
«Giacometti» von LIV und Geesbeatz ist mit Abstand das wichtigste Bündner Rapalbum des Jahres. Gleichzeitig ist es auch eine Art «Best of» der beiden Künstler, die hörbar viel Leidenschaft und Zeit in den Longplayer investiert haben.  Das Album beinhaltet die Frische der «LIV-Tapes», die Tiefgründigkeit von «Abgrund», die über allem thronenden Beats wie beim Album «Incinerated Melodies», den etwas verruchten Charme von «Churer Dame König Gras», die ganz grossen Hymnen der «Churer Gschichta»-Zeit und hin und wieder blitzen sogar ein paar ziemlich humoristische Stellen auf, die mich an «America is back» von «OBK» erinnert haben. Trotz dieser vielen beigemischten Erfahrungen, welche die Jungs in ihren Karrieren angehäuft haben, verliert das Album nie den roten Faden und klingt fast wie aus einem Guss. «Giacometti» ist ein Tonträger, der die Freundschaft, die alten Zeiten und auch die Hip Hop-Qultur zelebriert und dabei nichts dem Zufall überlässt. Auch wenn 17 Tracks eine echte Hausnummer sind, fühlt sich das Album beim Durchhören sehr kurzweilig und immer wieder überraschend an. Den beiden Herren und ihren handverlesenen Gästen ist hier eine echte Perle geglückt! Chaepau!  


Das neue Album der beiden Churer kann unter diesem Link bei Cede.ch gekauft werden.

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