Eine Karte der Welt im Massstab 1:1
Bild/Illu/Video: Marcus Duff

Eine Karte der Welt im Massstab 1:1

Der Text ist eine einzige Introspektion, ein einziger innerer Monolog, würdig eines Stephen Dedalus’, allerdings auch Schnitzlers Fräulein Else und sogar eines Gollum aus Tolkiens Herr der Ringe. Dieser ist sogar noch näher an Stamms Erzählstruktur, weil Gollum ja eher einen inneren Dialog zelebriert, wie Stamms Erzähler/Protagonist eben auch.


Stamms Erzähler ist namenlos, ist aber kein Jedermann, nennen wir ihn ER. Also, ER bildet ab, ER archiviert, und das schon fast sein Leben lang in einer Weise, die stark an eine Asperger-Symptomatik erinnert: das, was wir kontrollieren und ordnen beherrschen wir, auch wenn dies nur die Abbildung der Äusserlichkeit, die Berichte und Photos der Welt sind, vor der wir uns durch Schaffung einer globalen Indirektheit schützen können – und, wie Franziska gegen Ende des Buches sagt: «Das Leben besteht nicht aus Papier.»


ER ist der Dabei-Seiende, der Nie-Teilnehmende, der Immer-Beobachtende, der Archivar der Welt eben. Und auch mehr als dies, denn der Archivar ist auch der Schöpfer des Archivs, der abgebildeten Welt und damit (einem abgebildeten) Gott nicht unähnlich. Daher ist die Anspielung im Buch zwar sehr weit hergeholt, aber nur konsequent, wenn Franziska in einem imaginierten Gespräch sagt und ihre erste CD so nennt: «In bin, die ich bin», dies archiviert das Hebräische JHWH («Ich bin, der ich bin» oder «Ich bin, der ich sein werde»). Spannenderweise ist dabei Franziska die als Ewig-In-Seinen-Gedanken-Seiende die Ewig Abwesende und ER sieht sich selbst als Dabeiseiender, «ich bin da gewesen, der ich immer dagewesen bin. Ich bin, der ich bin. Eine Leerstelle.»


Und diese Leerstelle, dieser «Gott als der grosse Archivar, der unsere Akten nachführt, nicht um uns zu richten, nur damit nichts verloren geht» ist Gott im Archiv und das regredierendes Embryo im «wahren» Leben, das sich in sein Haus zurückzieht, welches das Haus der Mutter ist. ER schläft in seinem unveränderten Kinderzimmer und bei einem fantasierten erotischen Zusammensein mit Franziska löst ER sich in ihr auf und verschmilzt mit ihr zu dem Geräusch ihres Herzschlages.


ER hat seinen Job bei einer Zeitung verloren und das ganze, obsolete Zeitungsarchiv mit in sein Haus genommen. Dies beschäftigt ihn über Jahre hinweg mit neuem Ordnen, neuem Hinzufügen, neuem Verwalten des Alten, immer begleitet von seiner ersten (und wohl einzigen) Liebe seines Lebens, Franziska. Allerdings immer als Abbildung seiner Erinnerung, seiner Fantasie, seiner Wünsche, seiner Gefühle. Diese, interessanterweise, hat er nicht archiviert, auf Regalen den Blicken zugänglich gemacht. Dokumente seines eigenen Lebens bleiben irritierend ungeordnet und wären doch genau der Bereich der Welt gewesen, der ihm aus seinem inneren Exil herausgeholfen hätte. Viel früher als dies dann Fabienne beziehungsweise Franziska initiieren konnte. (Der Leser, also ich in dem Falle, wäre vielleicht dankbar gewesen). Aber endlich: das Archiv wandert in die Mulde, aus Franziska wird die leibhaftige Fabienne, also die gewandelte Franziska aus seiner inneren Welt, und ER wird entspannter, kleidet sich neu und sein Sex mit verschiedenen Frauen am Ende der Geschichte hätte James Bond auch nicht unberührter zu den Akten legen können.


Eine lange Geschichte fürwahr, in der ich mehr über IHN erfahren habe, als manchmal nötig war. Ein Archiv ab einer gewissen Grösse, und natürlich ein Archiv der Welt, fängt irgendwann an, um sich selbst zu kreisen und aus sich selbst heraus Abbildungsbeziehungen zu schaffen, die nicht von dieser, realen Welt sind. Und dann eben die – ausserweltliche – Handlung nicht gerade vorantreiben. Das (Achtung Spoiler Alert!) Happy Ending lässt mich ähnlich unzufrieden wie schon damals bei Graeme Simsions «The Rosie Project», wo ein Autist sich durch die Liebe zu einer Frau von heute auf morgen von seinen Zwängen befreien konnte und aus Liebe ein (fast) unautistisches Leben führen konnte.


Das Buch ist hervorragend geschrieben und bietet faszinierende Einblicke in das Leben eines Mannes, der wohlhabend genug ist, um nicht arbeiten zu müssen, sich ein Haus und ein Auto leisten zu können, der gut genug aussieht, um auch ohne sich anzustrengen bei Frauen Erfolg zu haben, und der sich, so nebenbei, jeden Abend mindestens eine Flasche guten Weines gönnt, um sich von seinen täglichen inneren Kämpfen zu entspannen.


Die Abbildung der Welt im Massstab 1:1 ist die Welt selbst, die Archivierung der Welt ist immer eine Reduktion auf homöopathische Dosen, kontrollierbar, ohne Bedrohung und auch ohne Leben.

Hier scheint heute die Sonne, ich gehe dann jetzt mal raus.

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