Kehlmanns Theaterstück «Heilig Abend» im Test
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Kehlmanns Theaterstück «Heilig Abend» im Test

Daniel Kehlmann, obwohl noch keine 50, gehört mindestens seit seinen Werken «Die Vermessung der Welt» und «Tyll» zu den Titanen der deutschen Literatur, was weltweit mit einer Plethora von Preisen und Ehrungen anerkannt wurde. Dass er neben seiner Prosa auch seit ungefähr 10 Jahren sehr erfolgreich Theaterstücke verfasst, die ebenfalls schon internationale Preise einheimsen konnten, ist dagegen weniger bekannt. Konkret geht es hier um das eher einem Kammerspiel gleichende, kurze Stück «Heilig Abend», das vor kurzem als Wiederholung im ZDF unter dem Titel «Das Verhör in der Nacht» gezeigt wurde.


«Ein spärlich möblierter Raum: Stühle, ein Tisch mit Papierstapeln sowie Thermoskanne und Pappbecher, eine Uhr. Thomas sitzt am Tisch und wartet reglos. Die Tür öffnet sich, und Judith kommt herein. Sofort wird die Tür hinter ihr geschlossen.» So viel genügt als Bühnenanweisung, das Ambiente bleibt karg und unwichtig, die Konzentration auf die Inhalte, den Dialog zwischen den beiden einzigen Personen Judith und Thomas bleibt ungestört. Judith ist seit einem Jahr Philosophie-Professorin an einer Uni, Thomas anscheinend bei einer Strafverfolgungsbehörde. Im Laufe des Stückes wird klar, dass Thomas Judith verdächtigt, zusammen mit ihrem Ex-Ehemann am Heiligen Abend, also heute, ein Bombenattentat verüben zu wollen. Und die Zeit des Heiligen Abend läuft ab und die Chancen, die Bombe ohne Judiths Geständnis zu finden, konvergieren gegen Null.

So viel zum Rahmen.


Was inhaltlich folgt ist zum einen im Prinzip eine Variante des Gefangenen-Dilemmas aus der Spieltheorie. Zwei Personen werden eines Verbrechens angeklagt und getrennt verhört. Hier nur die Kernthese des Dilemmas (wie immer von Wikipedia): «Leugnen beide das Verbrechen, erhalten beide eine niedrige Strafe, da ihnen nur eine weniger streng bestrafte Tat nachgewiesen werden kann. Gestehen beide, erhalten beide dafür eine hohe Strafe, wegen ihres Geständnisses aber nicht die Höchststrafe. Gesteht jedoch nur einer der beiden Gefangenen, geht dieser als Kronzeuge straffrei aus, während der andere als überführter, aber nicht geständiger Täter die Höchststrafe bekommt.» Die These geht davon aus, dass beide nicht miteinander kommunizieren können und beide an der Maximierung ihres persönlichen Nutzens orientiert sind.


Zum Anderen geht es, und Daniel Kahneman möge mir die Verwendung seiner Kernbegriffe verzeihen, um den Kampf zwischen System 1 und System 2. System 1 – in unserem Fall – bezieht sich auf das intuitive, eher emotionale, spontane und, konkret, revolutionär-gewalttätige Denken in Bezug auf gesellschaftliche Systeme. System 2 auf das rationale, geregelte, gesetzes-konforme, eher analytische Denken. Oder, kurz gesagt: System 1 denkt «System 2 ist unmenschlich und gehört zerstört» und System 2 denkt «Wie verhindern wir – weitestgehend im Rahmen der Gesetze –, dass Menschen durch Gewaltattacken von Terroristen etc. zu Schaden kommen?», rechte gegen linke Hirnhälfte also.


Vielleicht können wir dies persönlich nachvollziehen, wenn wir uns in die Rolle von Polizist:innen versetzen, die ein entführtes Kind finden wollen und den sehr wahrscheinlichen Entführer vor sich im Vernehmungsraum sitzen haben. Wie weit würden wir gehen? Wie nahe wäre uns die «Rettungsfolter»? Dass dies keine reine Spekulation ist, mag der Fall des Jakob von Metzler aus Frankfurt aus dem Jahre 2002 andeuten, der vor Kurzem den Juristen und Bestseller-Autor Ferdinand von Schirach zu dem Skript zu einem Doppelfilm aus verschiedenen Perspektiven veranlasst hat.


In unserem Stück aber ist dies das untergeordnete Thema und so bleibt Thomas konsequent und dem Themenfokus gemäss weitgehend auf dem Boden der Rechtsordnung und zeigt immer wieder, dass System 2 über alle möglichen Informationen verfügt, die sich durch digitale Vernetzung sammeln lassen. Seine Kollegen waren sogar in der Lage, ein der RAF nachempfundenes Bekennerschreiben von Judiths Computer zu bekommen, der nie am Internet angeschlossen war. (Judith bezeichnet dieses als Muster für die Behandlung in ihrem Philosophie-Seminar über revolutionäre und strukturelle Gewalt.)


Es wäre zu weit führen, im Detail die Dialoge anzuschauen, klar werden dabei aber zwei Grund­diskurse: Der System 2-Vertreter Thomas scheint sich in seinem Hamsterkäfig der (Grund-)­­Gesetze an die Grenzen zu wagen und er oszilliert zwischen seinen persönlichen Überzeugungen einerseits und privaten Problemen und seinen Rahmenvorgaben andererseits hin und her. System 1-Vertreterin Judith scheint aus ihrer persönlichen Geschichte heraus und aus intellektuell-politisch-theoretischen Beweggründen ein unübersehbares Zeichen zur Veränderung setzen zu wollen.


Argumentationsbasis dabei ist faszinierender Weise immer wieder der Hinweis auf ihre Rechte als Bürgerin eines Staates, den sie als menschenverachtend und ausbeuterisch versteht, – das letzte Refugium, in das sie sich zurückzieht, wenn Thomas sie zu sehr unter Druck setzt. Nach dem Motto: «Der Staat, den ich zerstören will, muss mich doch aber beschützen! Ich habe schliesslich Rechte!»

Das Ende transzendiert das Gefangenendilemma und zeigt in den kurzen und einfachen Sätzen Judiths die ganze Komplexität politischer Positionsnahme und die Verzweiflung und schiere Irrationalität eines einzelnen Lebens, das sich entschieden hat, ohne Rücksicht auf die eigene Person und das eigene Schicksal einen Impuls zur gesellschaftlichen Veränderung zu setzen.


Ein kurzes, täuschend einfaches Drama, eigentlich eine Tragödie im ursprünglichen Wortsinn, die Spitze des berühmten Eisberges, – vielleicht dessen, dem die Titanic begegnet ist?


Kehlmann, Daniel. Vier Stücke: Geister in Princeton / Der Mentor / Heilig Abend / Die Reise der Verlorenen, Hamburg: Rowohlt, 2019

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