Der Ursprung der Welt
Die Hauptfigur des Romans ist – und da geht es schon los: Die Hauptfigur ist eigentlich Paul Goullet (Initialen PG), wäre da nicht sein alter ego Prosper Gerroux (Initialen PG), der anders als bei Dr. Jekyll und Mr. Hydeoder The Hulk nicht einfach ein unsichtbarer, nur bei Gelegenheit sichtbarer Persönlichkeitsaspekt von ihm ist, sondern ein scheinbar genetisch in ihm überlebender Vorfahr, der genau 90 Jahre vor seiner Zeit in Südfrankreich lebte und heute noch einen grossen Einfluss auf Goullets Leben hat. Und nicht etwa in Form eines Nachlasses oder Briefen oder Bildern, sondern in Form von tatsächlichen zeitlichen Versetzungen Goullets aus dem Jahre 2033 ins Jahr 1943.
Dr. Prosper Gerroux ist ein Arzt der Leben zerstört, eine in sich moralisch verdorbene, durch und durch kriminelle und psychotische Persönlichkeit, tatsächlich Stevensons Mr. Hyde sehr ähnlich. Oder, wenn man es etwas klassischer möchte, bei Shakespeare wäre dies wahrscheinlich die Vice-Figur, die einfach böse ist und nichts anderes, und deren Aufgabe es ist, die Tragödie voran zu treiben, indem sie die Helden ins Verderben zu führen versucht.
Paul Goullet dagegen ist der adoptierte Sohn und Enkel von Stuttgarter Juristen, der sich erinnert, dass er als Kind einmal das geheimnisvolle, verbotene Arbeitszimmer seines Grossvater betreten hatte und dabei einen postkartengrossen Druck von Gustave Courbets Der Ursprung der Welt fand, einem Bild, dessen provokatives Sujet seit seiner Schöpfung zu Skandalen und Verboten geführt hat. Die Betrachtung dieses Bildes führte bei Goullet zu einer Art Vision, die ihn glauben liess, hier seinen eigenen Ursprung, nämlich den Schoss seiner eigenen Mutter vor sich zu haben. Und von dem Moment an wird es richtig merkwürdig.
Die beiden Zeitebenen reflektieren dabei nicht die nahe Zukunft in Deutschland und Frankreich und die letzten Kriegsjahre in beiden, sondern wir befinden uns mit Goullet und Gerroux in eher Georg Orwell-haften Gesellschaften, in Überwachungsstaaten, die wie in 1984 Krieg gegen zum Beispiel Russland führen und dadurch innenpolitisches Unterdrücken und Gestapo-Massnahmen rechtfertigen. Auch hier gibt es die Gestapo, eine Polizeieinheit, die im diesem Frankreich von 1943 die Bevölkerung flächendeckend terrorisiert. Das Jahr 2033 zeigt keine grosse Veränderung, Deutschland ist totalitär, es gibt in Frankreich immer noch eine Resistance, die Anschläge gegen das Regime durchführt und Flüchtlinge aus Deutschland nach Spanien oder in die USA ausschleust (man denke dabei an Michael Curtiz’ Casablanca von 1942 für ein ungefähres Ambiente). Allerdings setzt die Polizei jetzt subkutane Mikrochips und kleinste Drohnen zum Verfolgen von Verdächtigen ein.
Goullet wird durch eine Begegnung im Zug in die Sache der Resistance hineingezogen. In Wirklichkeit ist er schon weit früher daran beteiligt, ohne es zu wissen, denn eines der Bilder im Zimmer seines Grossvaters, die ihn zur Fahrt in den Süden Frankreichs veranlasst hatten, zeigt ihn (oder jemanden, der vor 90 Jahren haargenau so aussah wie er heute) in dieser Gegend. Auch die befristeten Persönlichkeitswechsel, die in der Folge immer häufiger werden, sind eigentlich nichts Neues: seine erste sexuelle (Fast-)Erfahrung endete schmerzhaft für ihn und noch mehr für seine Partnerin, weil Goullet (oder Nicht-Goullet) zum brutalen Gewalttäter transformierte und seine Partnerin gerade noch ohne Verletzungen aus dem Zimmer fliehen konnte.
Tukur macht es den Leser*innen wie zu erwarten nicht so ganz einfach mit diesen Zeitwechseln. Es ist nie: Goullet schläft ein – Gerroux wacht auf! In der Tat ist dies manchmal so, es schläft der eine ein und der andere erwacht, aber es reicht auch ein Umwelt-Trigger, der die Zeitverschiebung verursacht, zum Beispiel eine Spritze in 2033 und die Verabreichung einer Injektion in 1943. Oder ein Blick in einen Spiegel. Auch ist Goullet nicht automatisch Gerroux, manchmal ist er Goullet in Gerrouxs Körper, manchmal sieht er Gerroux im Spiegel einer Bar, manchmal glaubt Gerroux jemanden, der aussieht wie er im Spiegel einer Bar gesehen zu haben, manchmal schläft Gerroux ein und träumt, er sei Goullet und wacht als Gerroux wieder auf, der dann als Goullet wieder aufwacht.
Anspruchsvoll, ohne Frage, aber konsequent und fehlerlos durchdacht und durchgeführt. Das ganz kulminiert dann in der grandiosen Idee, Goullet die Blitzlichtaufnahme des Photos, das er im Jahre 2033 sieht und das 90 vorher aufgenommen wurde, bei dem Aufstieg zur Hütte, die wie die Spitze einer Pyramide von Goullet auf der einen und Gerroux 90 Jahre früher auf der gegenüberliegenden Seite des Monuments erklommen wird, als Blitz vor sich wahrnehmen zu lassen.
Dass Leser*innen nicht ins totale Chaos im Erzählstrang abgleiten, ist verschiedenen Aspekten zu verdanken. Der Wechsel von Goullet zu Gerroux und zurück ist (meistens) drucktechnisch dargestellt. Es gibt keine Kapitel, aber die Zeilen sind abgesetzt (meistens), wenn es eine Veränderung gibt. Aber Leser*innen können sich nie sicher sein, wo/wer/wann sie gerade sind: wie im täglichen Leben ausserhalb des Romans? Dazu kommt eine sehr detaillierte, fast pedantische Beschreibung des Raumes im Text: Zimmer, Strassen, Täler, Berghänge werden so genau beschrieben, dass eine Visualisierung einfach ist, so als sollte die Erdung durch die präzise Beschreibung des Raumes die chaotische Struktur der erlebten Zeit kontrastieren, - die chaotische Struktur einer sich immer wieder spiegelnden Zeit.
Denn oft sind Spiegel die Verbindungen zwischen den beiden Erzählebenen, zum einen als Projektion der Gedanken, als Projektionsfläche von Visionen, zum anderen fast wie Durchgänge in die Zeit und den Raum hinter den Spiegeln. Anklänge an Jean Cocteaus Film Orpheus von 1949 mit seinen schwarz-uniformierten, SS-gestylten Motoradfahrern und Eurydikes eher zufälligem Tod sind kaum übersehbar. Auch hier dienen Spiegel als Eingang in das Reich das Schmerzes und der Trauer, der Dunkelheit und der Hoffnungslosigkeit. In Cocteaus Version finden Orpheus und Eurydike allerdings wieder zusammen durch den Tod des Todes und den Sieg der Poesie.
So idealistisch-optimistisch macht es uns Tukur allerdings nicht, aber, ohne zuviel vom Schluss des Romans zu verraten, Goullet findet am Ende eine recht bombastische Lösung für die Selbstfindungsaufgabe, die ihm seine Gene, seine Geschichte, seine unklare Herkunft übertragen hatten.
Ein verwirrender, düsterer Roman, der von Anfang an fesselt und verstört, der die zyklische Struktur von Geschichte und Zeit, das Eingebettet-Sein des einzelnen Menschen in geschichtliche Ereignisse und sein eigenes, genetisches Erbe und des daraus sich manchmal ergebenden, unausweichlichen Zwanges zum Widerstand in zersplitterte Facetten giesst. Ein Roman, der einen umwirft und dann ganz zart die Hand reicht, um sich selbst wieder im Spiegel betrachten zu können.
Ulrich Tukur, Der Ursprung der Welt, Frankfurt: Fischer, 2019