«Der Sprung» - ein Fall mit Sprüngen
Bild/Illu/Video: Marcus Duff

«Der Sprung» - ein Fall mit Sprüngen

Daher - Manu fällt eher. Sprünge sieht man mehr im Umfeld: in den Leben, in den Gedanken der Menschen, die, mehr oder weniger berührt von dem Geschehen, Manu umkreisen. Aber zuerst fällt sie einmal, und dann, für den grössten Teil der Geschichte, werden Leser*innen erstmal mit dem Fall des Falles allein gelassen oder Manu fällt allein weiter, ohne Zuchauer*innen, ein Cliffhanger+, denn sie ist schon einen Schritt weiter. Aber von vorn.


Manu ist Störgärtnerin, sie stört das lustlose Ansiedeln von Pflanzen in der kleinen Stadt Thalach in der Nähe von Freiburg im Breisgau, indem sie sie umsiedelt, heimlich und meistens gegen den Willen der Besitzer*innen. Nun, zu Beginn des Buches, steht sie – nach dem Fall ist vor dem Fall – allein auf einem Dach und es sammelt sich eine erwartungsvolle Menschenmenge auf der Strasse an, die das Spektakel des freien Falls einer jungen Frau auf ihren Smartphones festhalten möchte. Unter diesen oder besser: um sie herum, treffen wir die Hauptpersonen des Romans, 10 Menschen, die in verschiedenartigen Beziehungen zu Manu, eigentlich Manuela Kühne, stehen, von ihrem Freund, über ihre Schwester bis zu eigentlich eher Unbeteiligten, die aber doch durch die Geschehnisse um Manus Dach-Event aus ihren gewohnten Bahnen und Trotts geworfen werden oder zumindest davon berührt.


Da ist zuerst einmal ihr Freund Finn, der zwar mit ihr zusammen ist, aber eigentlich nichts über sie weiss und auch noch nie in ihrer Wohnung war, bis er gezwungen wird, gegen Ende des Textes für sie Sachen zu holen. Er ist Velokurier mit dem Traum von der grossen Welt Sizilien, Istanbul und New York, bei dem es mit seiner Liebe für Manu am Ende dann doch eventuell nicht so weit her ist. Er geht, statt sie zu besuchen, zieht sich in sein Schneckenhaus zurück wie sein schleimiges Vorbild vor ihm auf dem Boden der Einfahrt zur psychiatrischen Klinik.


Und dann ist da Manus Schwester Astrid, die ihre politischen Ambitionen als zukünftige Bürgermeisterin von Freiburg gefährdet sieht und sich deswegen nicht in die ganze Aktion um ihre Schwester einmischt, lieber stundenlang im Auto sitzt und das fast jahrmarkthafte Treiben vor dem Haus, von dessen Dach Manu Ziegelsteine wirft, beobachtet und sich an die Kindheit mit Manu erinnert. «Den Sprung hat sie von ihrem Erzeuger», hatte schon damals die Mutter gesagt, «Sprung» im Passiv also.


Und da ist auch Felix, Polizist, kindheitstraumatisiert, werdender Vater und fast-Mörder, völlig überfordert mit der Herausforderung, eine scheinbar selbstmörderische junge Frau von einem Dach zu holen. Der Staub in der Dachkammer reaktiviert seine traumatische Erfahrung, einem Todesfall eines Kindheitsfreundes mit Asthma, dem er seinen Spray nicht rechtzeitig hatte bringen können, weil er ihn – obwohl in der Tasche mitgenommen – vor Aufregung dort nicht hatte finden können. Felix ist auch dabei, als Manu vom Dach ins Leere tritt.


Und dann sind da noch Maren, die zugenommen hat, ihr Mann Hannes, der mit Astrid schläft und chinesische Gewürze auf dem Balkon hat, Egon, der bei Roswitha, der einzigen im Roman, die keine eigene Geschichte hat (ausser Manu), Schnittlauchbrote isst und früher Hutdesigner war, Henry, der Fragen verkauft und Obdachloser ist, Theres und Werner, die einen Tante-Emma-Laden gegen alle Vernunft immer noch führen und während Manus 15-Minuten-Ruhm das Geschäft ihres Lebens machen, und Winnie, die Gemobbte, und Edna, die Genervte, Ernesto, den Modedesigner, der märchenhafterweise gerade den Hut von Henry für seine Mode-Show braucht, und wahrscheinlich habe ich noch jemanden vergessen. Aber so wichtig ist das nicht wirklich.


Zum Glück hatte ich mir nicht vorgenommen, eine literaturwissenschaftlich-wasserdichte Analyse des Romans abzuliefern, denn dann wäre der nächste Satz hier nicht möglich: Es funktioniert irgendwie nicht! Natürlich ist es berührend, wenn jemand in den Freitod springen will, aber das will Manu ja gar nicht. Natürlich ist es erschreckend, wie wenig Manus Stunden und Stunden auf dem Dach die Handlungen und das Denken der Menschen um sie herum berührt und verändert, dass sie sogar Profit aus dem ziehen, aber was ist tatsächlich das Fazit? Inkompetenz trifft auf Desinteresse, trifft auf persönlichen Ehrgeiz, trifft auf Zufall, trifft auf alte Geschichten und Traumata der Personen – das alles ist gut geschrieben, flüssig, manchmal amüsant und manchmal märchenhaft, wie die Aschenputtel-Komponente des Hutmachers, der hier gar nicht verrückt ist, auch wenn er wie ein heimlicher Spanner mit dem Fernglas aus Roswithas Café sein altes Geschäft beobachtet.


Das Arrangement des Textes wirkt oft künstlich, auch wenn die einzelnen Schicksale beeindruckend plastisch und psychologisch nachvollziehbar gezeichnet sind. Ian McEwans 2007 erschienener Roman «On Chesil Beach» erzählt die Geschichte zweier gerade frisch Verheirateter, die sich für die Hochzeitsnacht und die folgenden Flitterwochen dort in Dorset in einem Hotel eingemietet haben. Nach einem missglückten Versuch sexueller Aktivität treffen sich beide am Strand, reden, reisen getrennt ab und lassen sich scheiden. Ich als Leser – natürlich völlig unabhängig von meiner grundsätzlichen Abneigung gegen die Texte Ian McEwans – blieb zurück mit «Ähhh, wie ...?» und fragte mich, was mir das Lesen dieses flachen Textes jetzt gebracht hatte.


Wie zu sehen ist, kann man sich das scheinbar häufiger fragen...


Simone Lappert, «Der Sprung», Zürich, 2019

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