Orte, die man hinter sich lassen sollte
Kent Haruf erzählt eine Geschichte, mit vielen Ecken und Kanten und vor allem mit Löchern, aber er erzählt sie flüssig und fesselnd. Es ist die Geschichte von Jack Burdette in Holt, Colorado, oder eher, es ist die Geschichte von Holt, Colorado, in dem sich alles um Jack Burdette dreht, der aber über drei Viertel derselben Geschichte gar nicht vorkommt, jedenfalls nicht als Person, eher als Geschichte, als Symbol, als Mythos des rücksichtlosen, aber (oder deshalb) erfolgreichen Highschool Footballers, dessen akademische Fähigkeiten so minimal sind, dass ihn seine für das College-Niveau eher durchschnittlichen sportlichen Leistungen dann doch nicht auf dem College halten können. Als Person erscheint er zu Beginn und am Ende, dazwischen liegen eigentlich die 8 Jahre seiner Abwesenheit, eigentlich – weil als Ganzes gesehen, in Holt eigentlich nichts passiert zwischendurch, weil keinerlei Entwicklung der Menschen stattgefunden zu haben scheint. Mit wenigen Ausnahmen:
Wanda Jo Evens, die ihm in vorbehaltloser Zuneigung und scheinbar unendlicher Leidensfähigkeit durch die Highschool geholfen und weitere Jahre als Wochenendfreundin und Abgabestelle für schmutzige Wäsche gedient hat, wirkt neben ihm blass und farblos, eindimensional, auch wenn sie später, nach Jack Burdettes Hochzeit mit Jessie Burdette, für kurze Zeit und Textlänge in seelische und soziale Verwahrlosung eintaucht, aus der sie nur durch das Verlassen ihres Heimatsortes entkommen kann.
Jessie Burdette, die Jack nach nur einem längeren Wochenende in Tulsa, Oklahoma, geheiratet hatte, erscheint den Einwohnern von Holt mysteriös, unerklärlich und letztendlich als Projektionsfläche ihrer Emotionen und Abneigungen und, nach Jacks erneuter, finanzieller Untreue, als mitschuldig und sozial zu bestrafen. Nur ihre Ausdauer, Willenskraft und die Treue zu ihren (und Jacks) Kindern sowie ihr Versuch, zumindest einen Teil von Jacks Schuld wieder zurück zu zahlen, lässt sie langsam in den Augen der Ansässigen genügen.
Die Geschichte wird erzählt von Pat Arbuckle, einem früheren Schulkameraden von Jack Burdette und Herausgeber des Holt Mercury, der lokalen Zeitung. Sie wird erzählt wie lange Zeitungsartikel erzählt werden, die im Feuilleton eines Wochenblattes erscheinen, einigermassen recherchiert, voll von Lokalkolorit und wörtlicher Rede, aber nicht sehr in die Tiefe gehend, was die psychologischen Hintergründe und Motivationen der Protagonisten betrifft: also kein photorealistisches Bild von Chuck Close, eher eine Lithographie von A. Paul Weber. Also fast wie ein Spiegel-Artikel.
Literatur oder genauer: Geschichten müssen einen Sinn haben und dadurch dann machen, Ereignisse müssen sich aus der Handlung entwickeln, angelegt sein, völlig wahllose Unfälle oder ebenso überraschende, positive Auflösungen (wie der deus ex machina im Theater) wirken unbefriedigend und hinterlassen einen schlechten Geschmack. Die Leistung Kent Harufs in diesem kurzen Roman ist zum einen das Durchhalten des journalistischen Schreibstils bis zum Schluss, bis zu einem Moment, in dem ich als Leser zumindest gedacht habe: «Jetzt muss doch mal etwas Persönliches kommen!» Was es nicht tut, bravo.
Und zum anderen ist es die Leistung, eben diese Wahllosigkeit des Ereignisses, dieses völlige Umkippen der stringenten Handlung glaubwürdig zu machen: so glaubwürdig, dass ich als Leser mich kopfschüttelnd zurücklehnen musste und laut dachte: «Das kann doch nicht sein!»
Fazit: Ein Leseerlebnis mit Leserbeteiligung.
Kent Haruf, «Where You Once Belonged», Picador: Main Market, 2013