Wollte Eurydike gar nicht gerettet werden?
An diesem Punkt beginnt Natalie Haynes ihre Odyssee durch 10 Frauenfiguren, die in der griechischen Mythologie konsequent desavouiert, monstrosiert (wenn es das Wort gibt) und aus dem Wandfries gedrängt werden. Sie sind überwiegend dekoratives Beiwerk oder dienen als funktionaler Faktor, der den Helden (männlicher Art) erst zum Helden werden lässt. «Every telling of a myth is as valid as any other, of course, but women are lifted out of the equation with a monotonous frequency.»
Sie betrachtet die Frauenfiguren (Pandora, Jokaste, Helena, Medusa, die Amazonen, Klytämnestra, Eurydike, Phaedra, Medea und Penelope) in einer genre-umfassenden Perspektive vom Berg Olymp herab, die gleichermassen atemberaubend wie lehrreich ist und darüber hinaus auch noch äusserst amüsant. Ihre Argumentation nutzt Zeugnisse von Bildern auf Vasen und Amphoren im Metropolitan Museum of Art bis den Filmen von Ray Harryhausen oder zu der Amazonenkönigin Hippolyta in ihrer aktuellen Inkarnation in den Comics von Wonder Woman. Hauptquellen sind allerdings die Dramen des alten Athens und die bekannten Epen von Odysseus, Agamemnon, Herkules et al. sowie den Geschichten von Homer, Hesiod bis zu den Kinderversionen von Nathaniel Hawthorne aus dem 19. Jahrhundert. Für Haynes ist Euripides eine bemerkenswerte Ausnahme im Chor der Männer-Propagandisten. Sie schreibt: «Euripides wrote more and better female roles than almost any other male playwright who has ever lived». Ihr scheint Paulo Coelho wohl im Moment entfallen zu sein.
Die Betrachtung der Darstellung der Medusa mag als Beispiel für Natalie Haynes’ Ansatz dienen. Traditionellerweise wird die Geschichte von Hesiod über Medusa und ihre beiden Schwestern Sthenno und Eurydale in der Rezeption klischeehaft kolportiert.
Medusa ist sterblich, die beiden Schwestern dagegen altern nicht, dies, obwohl alle drei von göttlichen Eltern abstammen, schon dort hatte sie schlechte Karten. Wir wissen von Hesiod nichts über Medusas Aussehen in ihrer Jugend, bei Ovid allerdings ist Medusa eine clarissima forma, eine schöne, junge Frau, bei Pindar ist sie euparaou, mit schönen Wangen. So schön, dass der Meeresgott Poseidon sie verführt «in the soft damp meadow», wie Haynes aus dem Griechischen übersetzt. Es ist ein schönes Beispiel für ihren britischen Humor, dass sie den schlechten Witz, den man hier machen könnte über Versteinerungen des Körpers oder einzelner Teile bei der Betrachtung von Medusa, intensiv andeutet, aber dann doch nicht macht (aber eigentlich doch schon gemacht hat).
Jedenfalls, Medusa wird von Poseidon verführt, vergewaltigt, und das auch noch im Temple der Athene. Dass die griechischen Götterdamen, allen voran Hera und Athene, ultimativ sensibel auf territoriale Verletzungen zu reagieren pflegten, hat manche der in den Sagen verzeichneten «Helden»-Taten wie bekannt erst verursacht. Athene rächt sich nicht an Poseidon, vielleicht weil er ihr nicht unterlegen war, vielleicht auch, weil hier bereits der unterschwellige Vorwurf Gestalt annimmt, dass das Opfer die Tat selbst verursacht hat und daher die eigentlich Schuldige ist (siehe die Besprechung von Verschwörungsmythen im Test). Athene verwandelt daher Medusas Haar in ein Nest von Schlangen. Dass sie gerade die Verunstaltung ihres Haares als Waffe zur Bestrafung nutzt, reflektiert die Einsicht Hesiods und der anderen Autoren in die psychologische Bedeutung des Haares für die Identität einer Person, und nicht nur der Frauen. Das Haar als Element der Macht oder der Schwäche finden wir bei Samson und Delila im Alten Testament, Maria wäscht Jesus die Füsse und trocknet sie mit ihren offenen Haaren, in vielen Kirchen bedecken Frauen ihre Haare mit einem Tuch, amerikanische Indianer haben ihre Feinde skalpiert, keltische Frauen banden ihre langen Haare bei der Hochzeit zu zwei Zöpfen, einer verband sie mit den Göttern, der andere mit ihrem Ehemann. Die Reihe ist fast endlos, vor allem, wenn man auch noch die Farbe der Haare (Rot = die Farbe des Höllenfeuers) oder die Abwesenheit der Haare hinzu nimmt.
Im Weiteren wird Medusa auf ihren Kopf, genauer auf ihre Haare, reduziert, wie es auf beeindruckende Weise an Caravaggios Selbstbildnis in den florentiner Uffizien zu sehen ist. Ihr Haupt ziert Agamemnons Schild, später Athenes und wird sogar zu einem eigenen Lebewesen im Hades als Diener Persephones. Aber diese Reduktion war – im Mythos – gar nicht so leicht zu erreichen: es scheint, dass die ganze Geschichte um Perseus nur dazu gedichtet worden ist, um die damals häufige Verwendung von gorgoneia, von Köpfen, die vor Bösem schützen sollten, durch die endgültige Trennung von Medusas Kopf und Körper einigermassen logisch zu herzuleiten. Perseus wird ausgeschickt, das Haupt der Medusa zu holen, damit König Polydektes, der sich natürlich in Perseus’ Mutter Danae verliebt hatte, diese in Ruhe umgarnen und verführen konnte.
Der Mord an Medusa ist also im Prinzip nichts weiter als der hormonverklärte Wunsch nach einer sturmfreien Bude. Perseus, der Goldgeborene (Zeus hat seine Mutter in Form eines Goldregens geschwängert), hat an seiner Seite die rastlose Athene und den schnellfüssigen Hermes, die ihm Waffen und Transportmittel zur Verfügung stellen und ihm helfen, Medusa im Schlaf zu enthaupten: keine grosse Tat und schon gar nicht heldenhaft.
Medusa wird reduziert auf ihren Kopf (in Tat und Wahrheit), Penelope auf die Rolle der treuen, wartenden und webenden Ehefrau, Pandora zur bösen, ersten Frau, die durch ihre Neugier Unheil auf die Welt losgelassen hat, das besser für immer eingeschlossen geblieben wäre: Alles Reduktionen auf stumme Komparsinnen, «one that will do To swell a progress, start a scene or two,» um T. S. Eliot zu zitieren, aber ohne ihre eigenen Stimmen, ohne ihre persönlichen Geschichten.
Es ist Natalie Haynes Verdienst, diese Stimmen, diese Lebensgeschichten aus dem Geröll der Literaturgeschichte herausgewaschen zu haben, sich die verschiedensten Quellen genau angesehen und ihnen ihren lang-verdienten Platz zumindest gezeigt zu haben. Aber etwas fehlt in ihrem Buch: und das ist vielleicht ein noch grösseres Verdienst. Wie die Mythen, die sie feinst seziert, uns einen Spiegel vorhalten, hält ihr Buch uns heutigen Leser*innen einen Spiegel vor. Und – ausser bei Schneewittchen und der bösen Stiefmutter – reden Spiegel normalerweise nicht und geben keine Antworten. Haynes geht sogar noch weiter, sie stellt nicht einmal die Frage, die jedoch über jeder einzelnen, neu erzählten Geschichte schwebt. Das fast göttlich-unsichtbare «Cui bono?» schneidet tiefer als jedes Schwert der Griechen vor Troja.
Ja, wie ist es nun mit Eurydike? Ist sie vielleicht so langsam hinter Orpheus gegangen, damit er sich endlich umdreht und sie im Hades in Frieden lässt? Hatte er sie gefragt?
Natalie Haynes, Pandora’s Jar: Women in the Greek Myths, London: Picador, 2020