Der Traum von Olympia
Resultat ist eine sprachlich-kondensierte, fast lyrische Aussage über die Funktion der Medien in Bezug auf das menschliche Selbst: das Medium massiert die menschlichen Sinne. In Reinhard Kleists Geschichte Der Traum von Olympia rückt das Medium «Comic» neben die Geschichte selbst, ist aber eher eine Massage mit der Drahtbürste denn eine Wohlfühllektüre.
Das Buch ist mit einigem Recht als Comic zu bezeichnen, auch weil die Geschichte in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung als Fortsetzungscomic erschienen ist. Ich persönlich würde den englischen Begriff «Graphic Novel» vorziehen, eben weil das Medium die Sinne, die Erwartungen, die Sichtweisen vorprägt. Das Buch ist dann auch in der Reihe Graphic Novel Paperbacks bei Carlsen erschienen. Erwartungen zu unterlaufen, Genregrenzen zu sprengen ist allein schon ein grosses Verdienst dieses Buches.
Aber im Einzelnen: Wir erleben die weitgehend reale Geschichte der Somalierin Samia Yusuf Omar, die es geschafft hatte, ihr Land im Jahre 2008 bei den Olympischen Spielen in Peking im 200m-Lauf zu vertreten. Sie wurde zwar Letzte, aber vom Publikum aufgrund ihres Durchhaltewillens begeistert gefeiert. Sie hat sich das Ziel gesetzt, ihr Land nochmals an den Spielen in London 2012 zu vertreten und möchte vorher in Italien trainieren und als Profi-Sportlerin nicht nur gewinnen, sondern auch die Möglichkeit haben, ihre Familie in Mogadischu finanziell zu unterstützen. Al-Shabaab Anhänger machen ihr als Frau in Somalia das Leben schwer und das Buch erzählt in Text und Bild ihre beschwerliche Reise von Mogadischu nach Tripolis, ohne Geld, skrupellosen Schleppern und Behörden ausgeliefert und nie wissend, ob und wie die Reise weitergehen wird. Sie endet kurz vor Malta mit dem Untergang des Schlauchbootes, in dem sich Samia und viele andere Flüchtlinge befanden.
Eine erschütternde Geschichte, vor allem, weil sie repräsentierend für unzählige ähnliche Geschichten steht, die es alle wert wären, erzählt und beachtet zu werden. Das Anliegen des Buches, die Zahlen nackter Statistiken mit einem Gesicht, einer individuellen Geschichte zu versehen ist, ein notwendiger Versuch, darauf hinzuweisen, dass an den Grenzen Europas ein Krieg stattfindet, dessen Opfer viele ignorieren, aus Unkenntnis oder aus Unwillen: also ohne Frage ein nötiges Buch. Die vielen Preise, die die Veröffentlichung in den letzten Jahren bekommen hat, sprechen eine ähnliche, beredte Sprache. Darüber hinaus gibt es ausgedehnte didaktische Anleitungen, wie das Werk am nützlichsten im Schulunterricht einzusetzen wäre: es ist ein Comic, es geht um Sport, die Protagonistin ist jung, talentiert und ehrgeizig – alles mögliche Anknüpfungspunkte für Bildungskontexte.
Die meisten der Preise, die dem Buch verliehen worden sind, beziehen sich auf die Botschaft, auf die Geschichte, die erzählt wird, aber es war auch 2016 für den deutschen Jugendliteraturpreis nominiert, interessanterweise in der Sparte «Sachbuch». Gewonnen hat dann allerdings Kristina Gehrmann, auch mit einer Graphic Novel, genau einem Manga, die die Geschichte der Expedition von Sir John Franklin aus dem Jahr 1845 erzählt, die ebenfalls tragisch endet mit dem Tod von 129 Menschen im nördlichen Packeis. Es ist müssig, über die Hintergründe dieser Wahl zu spekulieren, und über den literarischen Wert des einzelnen Werkes im Vergleich.
Aber was an sich den literarischen Wert solch eines Werkes ausmacht, darüber würde ich gern spekulieren. Es erzählt die dramatische, tragisch endende Geschichte eines Menschen, was daran macht dies Buch zu einem «Sachbuch»? Robert Harris Trilogie über Cicero ist ein Roman, kein Sachbuch, Daniel Kehlmanns Buch über Tyll (Eulenspiegel) ist ein historischer Roman, kein Sachbuch. Was also macht Kleists Buch zu einem Sachbuch? Fehlt ihm eine literarischer Wert, eine literarische Komponente, die bei einem nicht weniger oder mehr fiktiven Text sofort die «Literatur» erscheinen lässt? Stört das Bild?
Ich hatte Mühe. Aber ich habe aus meiner Lesensgeschichte gelernt, dass immer dann, wenn sich mir ein Werk nur zögernd, sträubend erschliesst, wenn ich es immer wieder weglege, um es dann doch immer wieder aufzunehmen, dass sich dann die Lesearbeit, das Aushalten von Frust und Betroffenheit, von Lieber-Wegsehen als Weiterlesen lohnen wird. Gerade Wegsehen ist bei einer Graphic Novel schwierig, die Kombination von Text und Bild ist zwar einerseits eine Vorinterpretation, mit der ich oft Schwierigkeiten habe, aber andererseits, wenn sie gelingt, ein mächtiger Schlag mitten ins «Mir geht’s doch gut in dieser friedlichen Welt»-Zentrum meines Denkens.
Und ich bin ein Schnell-Leser. Aber Bilder halten auf, Bilder dringen ein, Bilder geben meiner eigenen Imagination kaum noch Raum, einer Imagination, in der ich beschönigen, verniedlichen kann. Die Bilder auf der Seite bleiben stehen, gehen nicht vorbei, schwenken wie im Film nicht um auf einen netten Hintergrund, haben auch keine kontrapunktische Musik, die erleichtert und ablenkt. Bilder bleiben, was sie darstellen: eine Scheibe aus einem Leben, das uns erschüttert.
Reinhard Kleist, Der Traum von Olympia, Hamburg: Carlsen, 2017