Wir müssen über dein Exposé reden
MH: «Alice, wir müssen über das Exposé reden, das du mir geschickt hast.»
AG: «Ja, gerne, weisst du denn schon, an welche Verlage du es schicken wirst?»
MH: «…»
AG: «Was ist, warum sagst du nichts?»
MH (räuspert sich): «Keinen.»
AG: «Was meinst du mit keinen?»
MH: «Na, halt keinen.»
AG: «Du bist meine Agentin. Agentinnen setzen alles daran, für ein Buch einen Verlag zu finden.»
MH: «Normalerweise.»
AG: «Aha.»
MH: «Es ist so. Deine Hauptprotagonistin gefällt mir. Ihre pragamatisch-ruhige Art, wie sie das Eindringen von Corona an ihren Arbeitsplatz aufnimmt, obwohl das seit Monaten ihre Hauptsorge war. Kein Hadern damit, dass sie seit fast einem Jahr ihre Sozialkontakte auf ein absolutes Minimum heruntergefahren hat, um sich und andere zu schützen, und nun dennoch vom Virus eingeholt worden ist. Mir imponiert, wie gelassen sie den Test macht. Wie sie nach dem unerwarteten negativen Ergebnis sofort auf die Ferien verzichtet, weil nun jede coronafreie Arbeitskraft gebraucht wird. Und wie sie in voller Schutzmontur eine Zwölfstundenschicht schiebt, das ist schon fast der Stoff, aus dem Heldinnen gemacht sind. Also echt guter Buchstoff.»
AG (etwas verwirrt): «Finde ich auch. Vor allem, weil es diese junge Frau in echt gibt. Also, wo ist denn das Problem?»
MH: «Du erfindest für diesen 20. Februar, an dem deine Geschichte spielt, eine Demonstration, bei der die Protestierenden Schutzanzüge tragen, aber keine Masken.»
AG: «Und?»
MH: «Das ist unglaubhaft. Schutzanzüge! Und dann lässt du die Demo in einem Kaff stattfinden, schreibst aber trotzdem von mehr als 1500 Teilnehmern. Alice, das ist einfach …»
AG: «… unglaubhaft. Ich weiss. Beruht jedoch leider auf einer wahren Begebenheit.»
MH: «Aber dass die Polizei nicht eingreift …»
AG: «Beruht ebenfalls auf derselben wahren Begebenheit.»
MH: «Und dann ereifern sich die Demoteilnehmer darüber, dass sie keinen Parkplatz gefunden haben. Das kannst du nicht bringen, das zieht alles viel zu sehr ins Lächerliche.»
AG: «Ist genau so geschehen. Auf Twitter hat das einer Schwarmdummheit genannt. Ich finde das Ganze asozial as f… ähm … du weisst schon.»
MH (seufzt tief und schwer): «Ja, ich weiss. Mal wieder ein so Fall von Realität schlägt Fiktion.»
AG: «So ähnlich. Vor allem eine völlige Verarschung und Verhöhnung von Menschen, die Tag für Tag in Schutzanzügen Mitmenschen betreuen und im schlimmsten Fall um deren Leben kämpfen. Und darüber will ich schreiben.»
MH: «Stimmt schon. Das Blöde: Die Verlage werden es für einen armselig billigen Plot halten, so eine Gutmensch-Idee. So was geht gar nicht. Die Kritiker würden dich in der Luft zerfetzen.»
AG: «Ja, aber …»
MH (seufzt): «Na gut, lassen wird das mal stehen. Wir haben noch ein weiteres Problem.»
AG (lacht irr): «Eins?»
MH: «Bleiben wir sachlich. Das mit der Pressemitteilung dieses Kantons … lass mich nachschauen … St. Gallen. Sag mal, das ist doch der Kanton, in dem du wohnst, nicht wahr.»
AG: «Leider.»
MH: «Diese Pressemitteilung hast du erfunden, gib’s zu. Und als Sahnehäubchen lässt du dir eine nationale Gesundheitskommission einfallen, die noch viel mehr lockern würde als eure Landesregierung, und dafür bereit wäre, diese sogar zu entmachten. Alice, das alles ist eine einzige Anhäufung von linken Klischees, die dir die Leserschaft nicht abnehmen wird.»
AG (seufzt jetzt auch): «In diesem Fall kein Klischee. Diese Pressemitteilung gibt es. Und die Gesundheitskommission auch.»
MH: «Ich persönlich glaub dir ja. Aber ich kann dein Exposé trotzdem nicht an Verlage schicken.»
AG: (schluckt leer) «…»
MH: «Bist du noch dran?»
AG: «Ja.»
MH: «Ich schlage vor, du vergisst die Sache und erfindest so was wie eine neue Heidi.»
AG: «Die zur Schule geht und eine Mutter hat, die ihr verbietet, Spucktests zu machen … cool, ja, mach ich gerne, ich habe auch schon …»
MH: «Warte, warte, warte!»
AG: «Keine gute Idee?»
MH: «Doch, doch. Finde ich schon. Aber die Verlage …»
AG: «Alles klar. Heidi im Schutzanzug. Verliebt sich in einen gutaussehenden Arzt, stirbt beinahe, Arzt heilt sie, gemeinsam retten sie die Welt und fahren in einem Jaguar in den Sonnenuntergang. Ohne Maske, ohne Coronatest, mit einem Lächeln auf den Lippen.»
MH: «Beschissener Plot. Aber glaubhaft. Schreib mal ein Exposé, ich schick’s dann an die Verlage.»