Wiedersehen
Bild/Illu/Video: Mariann Hasler

Wiedersehen

Eine Frau mit langen, graublonden Haaren stellte sich ebenfalls mit Namen und Wohnort vor. Die Art und die Stimme dieser Frau erinnerte mich an jemanden, kam mir irgendwie bekannt vor. Mein Gesichts- und Namensgedächtnis ist sehr ausgeprägt, ich vergesse eigentlich weder noch. In diesem Fall ist es der Dialekt, der nicht zum Wohnort passt. Er klingt eher wie mein Eigener. Manchmal habe ich aber auch nach kurzer Zeit das Gefühl, eine Person schon einmal gesehen zu haben. Das heisst also gar nichts.


Die geplanten 90 Minuten, dehnen sich jedes Mal auf zweieinhalb Stunden aus, vergehen wie im Flug.  Es bleibt keine Zeit, sich sonst noch auszutauschen und die nächsten vier Wochen sehen wir uns nicht. Zugegeben, ich würde gerne mehr erfahren. Bin etwas «gwunderig» oder wie man hier schöner sagt «gintressiert».


Seither arbeitet mein Unterbewusstsein wahrscheinlich ununterbrochen auf Hochtouren. Durchforstet dabei sämtliche Karteien in meinem Gehirn. Etwa so, wie wenn die eingegebene Teletextseite nicht gefunden werden kann.


Die Namen lassen mir irgendwie keine Ruhe. Und Internet sei Dank gibt es da auch Möglichkeiten.


Deshalb google ich zwei Tage später mal die Namen.  Ich öffne das elektronische Telefonbuch und fülle die wenigen Angaben, die mir bekannt sind, in die Felder.


Das Resultat kommt prompt. Rasend schnell verarbeitet mein Hirn das Gelesene. Der «20er gheit», wie Schuppen fällt es mir von den Augen. Dritte Klasse, Schulhaus Rosenberg, Handarbeitszimmer, am grossen Tisch ganz vorne erklärt uns die Lehrerin wie Luftmaschen gehen.


Ich hatte recht, ich bin dieser Frau wirklich schon einmal in meinem Leben begegnet.


Schnell hole ich den Poesiealbum meiner Kindheit aus dem Büchergestell. Ja, solche Sachen behalte ich. Zum Glück. Während ich das Büchlein durchblättere, weiss ich schon wie der Eintrag aussieht. Eine zarte Blumenzeichnung auf der linken Seite, auf der rechten ein kurzer Spruch. Auch an das Hochzeitsfoto erinnere ich mich. Wir durften Spalier stehen, riesige Stricknadeln mit Wollknäueln hielten wir in die Höhe. Leider verliess sie schon bald darauf unsere Schule. Das fand ich sehr schade. Sie war eine sehr liebenswürdige Lehrerin.


Ich bin ganz aufgeregt, muss das unbedingt sofort jemandem erzählen und mache meine erste Sprachnachricht.

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