Von Riesenwellen und Trüffelschweinen
Die Leserin in mir war überwältigt. Die Autorin in mir begeistert und inspiriert. Ich weiss nicht, ob es vor CRANK ähnliche Bücher gab, wahrscheinlich schon. Nach CRANK sind auf jeden Fall weitere gekommen. Steven Herricks «Wir beide wussten, es war was passiert» über den jugendlichen Ausreisser Billy habe ich gelesen und als ich fertig war, habe ich das Buch nicht zugeklappt, sondern gleich wieder von vorne zu lesen begonnen, etwas, das mir nur selten passiert. Letzte Woche habe ich «Toffee» von Sarah Crossan verschlungen, es wirkt noch heute nach. Auch in «Toffee» bricht eine Jugendliche die Brücken zu ihrem Elternhaus ab, flieht viel zu spät vor der Gewalt und nistet sich bei der demenzkranken Marla ein.
Alle drei Bücher sind keine leichte Kost: Es geht um Drogen, kaputte Familien, Gewalt, das Ausreissen von zu Hause, einsame Altersdemenz, generell das Leben ganz unten. Diese Themen findet man auch in anderen Jugendbüchern, oft berührend und aufrüttelnd erzählt. Die Gedichtform kondensiert und intensiviert das noch. Eine einzige Zeile kann die Wucht einer Riesenwelle entwickeln. Hier löst das Hemingway-Zitat aus meiner letzten Kolumne (Schreib hart und klar über das, was wehtut) sein Versprechen zu hundert Prozent ein.
I am not who I say I am.
Marla isn't who she thinks she is.
I am a girl trying to forget.
Marla is a woman trying to remember.
Solche Bücher sind für mich Perlen in einem Meer von immer und ewig gleichen Büchern.
Wie ein Trüffelschwein habe ich mich kürzlich durch die Verlagsneuheiten 2021 im Jugendbuchbereich gewühlt auf der Suche nach Büchern der speziellen Art. Erst hoffnungsfroh, dann zunehmend ernüchtert. Es dominieren Fantasy und Romantasy. Nichts gegen diese Genres. Sie bedienen eine grosse, begeisterte Leserinnengruppe; viele dieser Bücher verkaufen sich gut bis sehr gut, es braucht sie. Mir fehlt aber zunehmend der etwas andere Lesestoff. Geschichten, die sich mit wichtigen Themen der Gegenwart auseinandersetzen, Geschichten aus dem Hier und Jetzt, Geschichten, in denen mit Inhalt und Form experimentiert wird. Das ist es nämlich, was mich an der Jugendliteratur ursprünglich so fasziniert hat, das ist es, was ich zurzeit so sehr vermisse.
Werde ich gefragt, ob ich viel lese, muss ich gestehen, dass es auch schon sehr viel mehr war. Aber vielleicht kennen Sie das: Sie sehen im Buchladen oder in der Bibliothek ein Buch mit einem ansprechenden Cover, nehmen es neugierig in die Hand, lesen den Text auf der Rückseite und legen das Buch mit einem leisen Seufzer wieder zurück auf den Stapel oder ins Verkaufsregal. Wieder nur das sattsam Bekannte. Mir passiert das immer häufiger. Ich gehe mit leeren Händen nach Hause – und tue dann halt etwas anders.
Das Gegenrezept? Verlage, die den Mut haben, Bücher abseits des Mainstreams zu veröffentlichen. Buchläden, die nicht das übliche ewiggleiche Sortiment führen. Beides gibt es (noch). Weshalb wir Trüffelschweine in Sachen gute Texte bleiben müssen. Ich wünsche Ihnen viel Freude beim Suchen und Finden des Speziellen. Wenn Sie die drei erwähnten Bücher noch nicht kennen, schlage ich vor, Sie gucken mal in sie rein.
CRANK, Ellen Hopkins, Carlsen Verlag, deutsche Ausgabe scheinbar vergriffen, englische noch erhältlich
Wir beide wussten, es war passiert, Steven Herrick, Thienemann Verlag, deutsche Ausgabe erhältlich
Toffee, Sarah Crossan, engl. Version bei Bloomsbury, leider keine deutsche Ausgabe gefunden