Vom Zurückbleiben und Fortgehen
Bild/Illu/Video: Christian Imhof

Vom Zurückbleiben und Fortgehen

Wenn der Kopf keine Antworten mehr liefert, dann hast du dem Herz seinen rechtmässigen Platz als Entscheidungsträger eingeräumt. Beim Abschied schweigt der Kopf plötzlich und unerwartet. Der Abschiednehmende spürt den Abschied mit dem Herzen. Die Hinterbliebenen fühlen mit ihrem Herzen das Herz, desjenigen, der in die Ferne hinauszieht. Ein Abschied ist wie eine Wiederbegegnung nach langer Zeit - nicht von Worten sondern Gefühlen erfüllt. Tausend Male war ich bereits derjenige, der zurückgeblieben ist. Tausend Male beweinte ich die Menschen, die mich verlassen hatten. Doch dieses eine Mal war ich derjenige, der die anderen verlässt. Dieses eine Mal war ich derjenige, der alleine in die weite Welt hinauszog.


Zurückzubleiben ist wie Fortzugehen - von gleichem Schmerz doch von anderer Freude. Zurückzubleiben schmerzt im Herz, die Angst davor den Menschen zu vermissen lässt die Augen nass werden. Die Angst davor einen Menschen lange nicht mehr zu sehen, einen Menschen lange nicht in den Armen halten und gemeinsam lachen wie weinen zu können, macht den Abschied von unseresgleichen so schwer. Während der vielen Male, als ich zurückgeblieben bin, beweinte ich die Unmöglichkeit noch länger an jemandes Leben teilzunehmen. Während der vielen Male, als ich dem Auto, dem Zug, dem Flieger und dem einsamen Wanderer nachsah, verspürte ich den innigsten Drang hinterherzurennen, mich herzlichst zu umarmen und erst nach einer Weile loszulassen. Dieses eine Mal wünsche ich mir beim Abschied, dass die anderen mir nachrennen mögen und sich an mir anklammern und erst nach einer Weile mich endgültig gehen lassen. Wenn die Gefühle übermacht nehmen, wenn das Herz schreit und der Kopf schweigt, dann ist alles klar und ohne Zweifel. Dieses eine Mal war ich derjenige, der seinen Weg weiterging und die anderen in ihrem eigenen Leben zurückliess. War ich traurig? Natürlich. War ich glücklich? Natürlich. Verspürte ich Angst vor der Ungewissheit? Absolut. Doch zum Glück weiss ich...Angst ist der Schwindel der Freiheit. Freiheit ist unfassbar und doch allgegenwärtig.


Anfangs mag der Mangel an bekannten Menschen tief im Herz schmerzen. Der Kopf versucht einem einzureden ohne die anderen Menschen, jene Menschen, die immer schon da waren, nicht leben zu können. Der wahre Luxus meines Fortgehens besteht darin, dass ich während meinem Alleinsein in der Fremde sein kann und darf wer ich will. Niemand kennt mich. Ich kann und könnte eine völlig neue Persönlichkeit entwickeln. Ich könnte mich selbst neu entwerfen und zu einem neuen Menschen heranwachsen. Ebendas, was mir die Tränen der Trauer in die Augen treibt, treibt mir genauso die Tränen der Freude in die Augen... Alles ist eines - alles was Schmerz und Leid ist, kann sich in sekundenschnelle in Freude verwandeln. Vor allem dem Menschen, der alleine durch die Welt zieht. Wenn es ihm zuhause gutging, so geht es ihm auf der Reise phenomenal. Wenn es ihm zuhause schlechtging, so geht es ihm auf der Reise abgrundtief schlecht. Reiseextreme, so könnte man diese Veränderung des Seins nennen.


Vom Zurückbleiben und Fortgehen... was den einen im Herzen freut, treibt dem anderen Schmerzestränen in die Augen. Fortgehen und Zurückbleiben... so unterschiedlich wie ich immer dachte, dass es wäre, ist es gar nicht. Der stechende Schmerz im Herzen, den ich aufgrund meines Fortgehens verspüre, wird sich bei meiner Heimkehr in flammende Freude verwandeln. Das eine gibt es ohne das andere nicht. Ohne Tod keine Geburt... ohne Licht keine Finsternis. Wie mein Herz zur Ruhe kommt, gelange ich in einen Zustand der tiefen Selbsterkennung, einen Zustand des Friedes, der stillen Freude am Leben. Danke für mein Leben, danke für meinen Platz in dieser Welt. Für mich gibt es nur noch heute, nur noch hier und nur noch jetzt. Mitsamt den Seelen, die mich auf meinem und die ich auf dem ihrigen Wege begleite.

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