Bild/Illu/Video: Julia Kulewatz

«Rotkäppchen spricht»

Im Oktober beginnen wir auf das Jahr zurückzublicken, dankbar zu sein, für das, was wir geerntet haben. Wir schwelgen in den letzten Sonnentagen, die uns der Goldene beschert. So manchem erscheint die Sonne wie eine goldene Kugel, während wir an Schneewittchens rotbackigen Apfel denken und genüsslich in die eigenen beißen. Die Zeit für abendliche Märchen kommt mit dem Untergehen der Sonne, mit der Dunkelheit, sie leitet das Jahresende ein, das sich neigt.


Mit «Rotkäppchen spricht» stellen die bildende Künstlerin, Julia Kneise, und Verleger und Autor Siegfried Nucke die Frage, was uns vom Märchen bleibt,  wenn alles vermeintlich Bekannte verwischt? Julia Kneises Malereien antworten uns, manchmal, meistens, ab und an, dann doch wieder nicht. Das kommt ganz auf die Lesart und das Schauen an. Fragen wir Siegfried Nucke, der die Texte zu den märchenhaft verworrenen Malereien der im thüringischen Eisenach geborenen Julia Kneise beigesteuert hat, so erfahren wir, dass Rotkäppchen sich emanzipiert hat, zu einer alten Weisen ist sie schließlich geworden, selbst eine Erzählerin: «Rotkäppchen spricht». Nucke beschreibt die stärksten Bildaussagen der Künstlerin, die er seit ihren Kindertagen kennt, als Momentaufnahme, direkt vor dem Kipp-Punkt. Alles ist offen, Glück und Grauen, Geburt oder Tod. «Kann es Rettung geben?», fragen wir das zurückgekehrte Rotkäppchen auch noch nach all den Jahren. Wir befinden uns in einer Atempause, halten mitten im Erzählen inne. Lauschen dem Oktoberwind. Ein Apfel fällt. Das Einhorn, welches unter dem Baum geschlafen hat, schaut uns an. Gleich erhebt es sich. Noch sind wir im Bilde: «Gestatten wir dem Einhorn, ermattet und bar jeder Hoffnung unter Weiden zu liegen. Es ist nur ausgezehrt von all den Erwartungen und Wünschen, die auf das Einhorn gerichtet wurden», rät uns der Begleittext im Buch, ganz, ohne uns an die Hand zu nehmen. Wir hoffen, dass Rotkäppchen uns nun endlich führen wird. Schließlich ist sie eine Zurückgekehrte, eine Überlebende, eine Verwandelte und damit Wissende.


Betrachten wir die Bilder in diesem ungewöhnlichen, sich selbst übersteigenden Märchenbuch, so sehen wir, wie bereits der junge Rehbock wehmütig zurückblickt auf die Tage seiner Geburt. Erst der Text zeigt uns, das ist kein Rehbock, es ist das Brüderchen, das aus der falschen Quelle trank, weil es nicht vor Durst umkommen wollte (Brüderchen und Schwesterchen. Grimms Märchen. Acryl, Pigment auf Leinwand. 2021. 40 x 53 cm). Dem Gesicht des weißen Kaninchens ist nicht zu trauen, alle Unschuld scheint verloren, vermag es doch meisterlich «lügenhaft zu erzählen» (Der Hase und der Igel. Grimms Märchen. Acryl, Pigment auf Leinwand. 2020. 105 x 70 cm). Schatten werfen sich überlebensgroß vorausdeutend hinter dem kleinen Mädchen mit den Schwefelhölzern an die Wand (Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern. H. C. Andersen. Graphit auf Pappe. 2016.  50 x 65 cm). «Heißa, rief er, heißa! Ich bin der Drache über den Meeren, Eins mit den Winden, Hoch über dem Grün, Nichts kann mich halten. Vergiss mich nicht, bat es leise vom Grund» (Butt. Der Fischer und seine Frau. Grimms Märchen. Acryl, Pigment auf Leinwand. 2019. 83 x 126 cm). Im Schatten von «Taubenflug» wird Aschenputtel selbst zur Taube, eine von ihnen breitet sie die Arme nicht nur zum Füttern, sondern zum Fliegen aus: «Ist das Wahrheit, fragte einer. Was siehst du, fragte eine andere» (Taubenflug. Aschenputtel. Grimms Märchen. Acryl, Pigment auf Leinwand. 2021. 84 x 95 cm). Es bleiben Tauben und ein Schuh zurück, alles in ein blau-graues Schwarzlicht getaucht. Das Mädchen aber ist hinter den Bildern verschwunden. «Siehst du die Farbe der Furcht an der Wand, fragte das Mädchen» (Blut ist im Schuck. Aschenputtel. Grimms Märchen. Acryl, Öl auf Leinwand. 2020. 97 x 74 cm).


Rotkäppchen spricht vermengt das alte, deutbare Märchen und seine finsteren Elemente mit dem Schimmern möglicher Zukünfte, die das Wissen tragen, als seien sie unbestimmbare goldene Kugeln unbekannter Herkunft, wie Oktoberäpfel und ein erstes Zurückblicken des jungen Rehbockes auf den Tag seiner Geburt: «Auf einem Bild von Julia Kneise trägt eine ältere Frau eine Kugel unbekannter Herkunft. Trägt sie schwer an dieser Kugel? Wir wissen es nicht. Wohin führt sie ihr Weg? Wir wissen es nicht. Blicken wir weit zurück oder geschah es gestern? Wir wissen es nicht. Wir sehen eine alte Frau in einem Universum weniger Farben.»


«Rotkäppchen spricht» erschien 2022, herausgegeben von der Künstlerin Julia Kneise mit Texten des Autors und Verlegers Siegfried Nucke in einer Auflage von 500 Exemplaren. Mehr zu Künstlerin und Autor unter: www.julia-kneise.de und www.verlag-tasten-und-typen.de.



Julia Kulewatz ist studierte Literaturwissenschaftlerin, unabhängige Verlegerin und Autorin im Herzen Deutschlands. Ihr besonderes Augenmerk gilt der unabhängigen Verlagsarbeit und Buchlandschaft. Sie unterrichtet kreatives Schreiben und löst Schreibblockaden an Universitäten und anderen Einrichtungen.

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