Nachts am Berg
Bild/Illu/Video: Lucas J. Fritz

Nachts am Berg

Der steil abfallende Rücken, des vor mir pragenden Felsmassivs nimmt in den Schatten, welche die Nachmittagssonne wirft, skurile Formen an. Ich sehe einen Indianerhäuptling und später einen Bärenkopf in den Formen der Felsen, ohne danach gesucht zu haben.


Dann baue ich mein Zelt auf, lege das isolierende Mättchen hinein, den Schlafsack darauf, werfe mit Schwung meinen nun beinahe leeren Rucksack in eine Zeltecke und verschliesse den Reisverschluss des Innenzelts. Nun recke und strecke ich mich, um meinen Körper nach der Wanderung und der eben getanen Arbeit etwas zu lockern und lege mich danach ins Gras. Ich faulenze und leiste nichts. So würde der Spiessbürger meine Tätigkeit an diesem nicht aussergewöhnlichen Dienstagnachmittag in den Bergen beschreiben. Doch faulenze ich wirklich, nur weil ich nicht unmittelbar für oder gegen etwas aktiv äusserlich tätig bin? Ich hänge meinen Gedanken nach, lasse sie vorüberziehen wie die Wolken über mir und achte auf mein Inneres, mein Herz ohne Wunsch und Sehnsucht. So soll mein Leben sein, ganz ohne Wunsch in einen anderen Augenblick, beständig im gegenwärtigen Moment ohne Sehnsucht nach irgendjemandem oder irgendetwas - einfach frei.


Wie ich so im längerwerdenden Halbschatten daliege und zur Felswand hinüberblicke, die jenseits der Steinhütte, des Baches und der Kühe mit ihren unablässig bimmelnden Glocken liegt, fallen mir die Augen zu. Ich schlafe ein. Als Grossmutter Sonne hinter dem Berg untergeht, spüre ich wie sich die Luft abkühlte, wache auf und blicke von Neuem. Die Schatten der Felsen werden nicht mehr länger und so ergreife ich meinen Schlafsack und schlüpfe hinein, wieder an diesselbe Stelle sitzend. Bald werden die Finsternis und Kälte der Nacht herrschen. Dem Untergang der Sonne und dem Hereinbrechen der Nacht geduldig folgend, sitze ich in meinem Schlafsack und schlüpfe dann und wann daraus heraus, um mir zuerst Mütze, dann Handschuhe und zum Schluss noch eine dickere Jacke anzuziehen. Ich sehe den Atem, wie er mir aus Mund oder Nase steigt, so kalt ist es bereits zu früher Sommernachtsstunde. Ich verspürte Angst vor der bevorstehenden Nacht, Angst, weil ich mich im Gebiet des wölfischen Calandarudels befand und im Falle einer ernsten Konfrontation mich nur mit meinen Körper, elektrischem Licht und einem viel zu kleinen Messer verteidigen könnte, Angst, weil der Schlafsack, den ich bei mir hatte, mich nachts vielleicht nicht genug wärmen würde. Mir fiel auf, dass ich keine Angst verspürte hier und jetzt alleine zu sein. Ich bin ganz nah bei mir.


Immer wenn ich Angst verspüre, denke ich an Kierkegaard, den dänischen Nationalphilosophen und Worte, die er einmal ausgesprochen hatte. «Angst ist der Schwindel der Freiheit.» Bin ich den wirklich frei? Ich überzeugt frei zu sein, weil ich in diesem Augenblick tun und lasse, wie ich es mir für mich und mein eigenes Leben wünsche und gewünscht habe.


Die ersten Sterne funkeln am Himmelszelt. Venus im Nordosten, der grosse Bär in Nord-Nordwestlicher Richtung. Andere Planeten oder Sternbilder kann ich mit meinem Auge noch nicht ausmachen. Ich bin kein Experte, wie könnte ich bei diesem flächendeckend lichtverschmutzten Schweizer Nachthimmel. Später in diesem Sommer, werde ich an einem anderen Ort in dieser unserer einzigen Welt den Nachthimmel über viele Monde hinweg in seinem vollen Glanz betrachten können. Doch dahin wünsche ich mich hier und jetzt nicht. Jetzt bin ich alleine und hier bin ich frei und ganz nah bei mir.


Die Nacht übernimmt das Zepter des Königreichs Erde und ich verkrieche mich bereits schlotternd ins Zelt. Ich habe kaum bemerkt wie es merklich kühler geworden ist, weil ich meine Augen nicht von den Felsen, dem Himmel und den fernen Bergspitzen nehmen konnte. Im Zelt lese ich in einem Buch, dass ich kürzlich gefunden habe. Irgendwann fallen mir die Äuglein zu und so gleite ich ins Land der Träume. Die Nacht ist ruhig und ich müde. Dreimal erwache ich, weil mir kalt geworden ist, richte mich neu ein, lege die Jacke nochmals anders auf den Schlafsack, weil dieser nicht genug wärmt und schlafe zweimal wieder ein. Als ich zum dritten Mal erwache, ziehe ich mir besagte Jacke über, dazu die dicken Fleecehandschuhe und die Wintermütze und wage mich aus dem Zelt. Meine Augen sehen einzig und allein den Nachthimmel wie er funkelt und glitzert.


Die Sterne prangen unzählbar über mir am Sommernachtshimmel. Der achte Mond dieses Jahres ist bloss noch eine dünne Sichel. Ich bin so fern jeglicher Lichtverschmutzung, dass ich sogar den verdunkelten Teil des Mondes erblicken kann. Ich setze mich in meinem Schlafsack hinaus und lasse den Nachthimmel auf mich wirken. Ich fühle mich umarmt von der Weite des Universums. Wie ein Sandkorn in der Wüste, wie ein Gipfel im Alpenmeer fühle ich mich und geniesse meine Winzigkeit und mein Gefühl von Aufgehobenheit in der unendlichen Weite der Nacht.


So wie ich hier und jetzt alleine und frei sitze, die Sternenpracht bewundere und den fernen Kuhglocken lausche, fühle ich mich innigst umarmt und unendlich geliebt von Mutter Erde und Vater Mond. Es sind Momente wie dieser, so fällt mir auf, die mir die Belanglosigkeiten des durch und durch menschlich-zerstörerischen Tuns auf diesem Planeten aufzeigen und mich mahnen auf dem rechten Weg, dem Weg des Wissenden zu schreiten und mich nicht zu fürchten vor der Ungewissheit des Augenblicks, noch der Angst über morgen noch der Sehnsucht nach gestern und umgekehrt zu verfallen. Mein Leben ist so kurz, so klein und doch währt es seit Anbeginn der Schöpfung. Vielleicht hatte ich dereinst das Alter einer Eibe, die Härte eines Schildkrötenpanzers oder das Erinnerungsvermögen eines Elephanten erreicht und verlassen. Der Grosse Geist lehrt mich und ich lausche seiner Stimme. Ich fühle seine Präsenz. «Unsere Seele ist ein Teil des universellen Bewusstseins. Woher sie stammt und wohin sie dereinst zurückkehrt.» Ich höre seine Worte nicht wie Menschenstimmen, sondern fühle sie so, wie ich Angst und Freiheit fühle.


In meiner Müdigkeit der vortägigen Wanderung schwelgend und gedankenfrei seiend, schliesse ich meine Augen. Im Schosse von Mutter Erde sitzend fühle ich wie meine Seele sich plötzlich jenseits meines Körpers befindet. Ich werde emporgezogen von einer Kraft, von der ich fühle, dass sie schon immer da war und immer da sein wird. Grenzenloses Vertrauen und innigste Liebe durchströmt mich.


Der grosse Geist nimmt mich mit auf eine Reise durch die Sterne und zeigt mir die Wunder unseres Kosmos. Meine Seele sieht zu den Sternen empor und der Grosse Geist lässt mich um die Bedeutung der Erde in der Weite des Universums wissen. Wir sind alleine. Wir waren immer schon alleine. Wir werden immer All-Eins-Sein. Unter der Führung des Grossen Geistes verstehe ich mit einem Mal, habe ich schon so manch anderes Wunder der Welt erfahren dürfen. Ich bin von tiefster Dankbarkeit und stiller Zufriedenheit erfüllt. Mein drittes Auge leuchtet. Das ist mein Leben und meine Welt, hier kann ich wirken und leuchten. Ein Leuchtturm sein, der den scheinbar verlorenen Schiffen des Meeres in stürmischer Nacht den Weg in den sicheren Hafen weist. Das Leben liebt mich, so wie ich das Leben liebe. Der Grosse Geist schweigt und ich verspüre Liebe, wie sie wie eine Welle über mir bricht und mich tosend und schäumend umspühlt. Meine Seele kehrt in meinen Körper zurück und ich öffne meine Augen.


Über mir prangen die Sterne. Ich kann mit blossen Auge Jupiter, Saturn und Venus ausmachen. Ich sehe den grossen Bären und wie er von drei Reitern gejagt wird. Unter dem prachtvollen Nachthimmel stehen die Berge steil und stark auf Mutter Erde.


Dort, wo ich in der Abenddämmerung noch Felsen und Kanten ausgemacht habe, herrscht nun völlige Finsternis. Nur die Umrisse der Giganten sind im dünnen Mondsichellicht zu erahnen. Der See der sich hinter mir unten am Hügel befindet, ist pechschwarz und hätte ich nicht gewusst, dass da ein See gewesen ist, so hätte ich geglaubt es wäre ein Abgrund so tief und dunkel, dass ich mich gefürchtet hätte. Die Sterne wandern, der Mond wandert mit ihnen.


In weiter Ferne sehe ich den Schimmer von Dorflichtern, wie er den Himmel hellblau färbt und die Sterne auslöscht. Das Nichts vor dem sich Balthasar Bux im Phantasien der Unendlichen Geschichte fürchtet, vor diesem Nichts am Nachthimmel fürchte ich mich. Wir brauchen die Nacht und die Weite des Universums, um uns ganz und wohl zu fühlen und zu wissen wo unser Platz ist. Ich frage mich, wie diese Menschen in den Städten ihre Leben ohne die Kenntnis eines solchen Nachthimmels und der Mannigfaltigkeit der Sterne führen konnten. Waren sie nicht zu ewiger Selbstüberschätzung verdammt, nirgends in ihrem Sein die Wirklichkeit entdeckend und schon gar nicht danach suchend.


Ich nehme Abschied von Grossvater Mond und seinen nächtlichen Begleitern und verkrieche mich im Zelt, um nochmals eine Mütze Schlaf zu nehmen.

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