Mü Man’s «Nachtblind» im Soundcheck
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Mü Man’s «Nachtblind» im Soundcheck

«CC» beginnt klassisch und doch frisch. Kurz erhält die Karriere von Mü man eine Retrospektive und schon beim Opener wird klar, welch grandioser Beobachter der Dübendorfer ist. Er schafft eine stimmungsvolle Atmosphäre, die einem sofort packt. Man erkennt sich sofort in den von ihm beschriebenen Bildern wieder und gibt sich der leichten Melancholie hin, welche die tragischen Wendungen unseres Lebens mit sich bringt.


«2020» ist mehr als ein Lied. Es ist eher ein Vermächtnis. Das hart bouncende Stück begrüsst das neue Jahrzehnt und zeigt, dass sich gewisse Sachen eben nie wirklich ändern. Es ist Stück, welches nicht nur die Kunst abfeiert, sondern auch Platz für negative Aspekte lässt. Mü Man erklärt darin beispielsweise, wie er Pflichten vernachlässigt und in unwichtige Angelegenheiten flüchtet. Dies ist offen, ehrlich und verdammt authentisch. So ausgewogen sollte es eigentlich immer bei Geschichtenerzählern sein. Viel zu oft leben Schweizer Rapper in einer Phantasiewelt und bluffen mit Gangsterattitüde rum, die nichts mit der Realität zu tun haben. Leider ist dies auch im Jahr 2020 immer noch gleich…


Auf «Schritt» ergreift mit Jung ÄM der erste Gast das Mikrofon und macht den gesellschaftskritischen Song zu einer regelrechten Hoffnungshymne, welche sofort unter die Haut fährt. Spannend, wie wir aktuell durch die Pandemie gezwungen sind Abstand zu halten und trotzdem einander immer näherkommen. Wenn der Virus dann mal besiegt ist und die Situation sich normalisiert, könnte das ein wegweisender Soundtrack sein, der das Denken und Handeln der Menschen nachhaltig beeinflussen könnte, wenn jede oder jeder dies auch zulässt. Bei diesem Song muss unbedingt noch der Beat hervorgehoben werden. Dieser lässt die Sonne aufgehen, brilliert mit einem kreativen Snaredrum und drückt an den richtigen Punkten, so dass die Hörerschaft mittendrin statt nur dabei ist und sich aufgehoben fühlt. Grossartig!

Bei «Spring» fällt es mir sofort auf: Im Vergleich zum Vorgänger «Herz» hat Mü Man mächtig an seiner Soundqualität getüftelt. Die aktuelle Produktion hat einen ganz neuen qualitativ hochwertigen Klang, ohne dass der Rapper seinen ganz eigenen Sound vergessen hat. Dieses Lied hier ist eine angenehme, poppige Zwischennote, die ihm sehr gutsteht und live sicher von seinen Fans lautstark mitgesungen wird. Es ist der perfekte Soundtrack zu einem Ausbruch aus alten Gewohnheiten und könnte vielleicht sogar sowas wie ein Rap-Sommerhit werden.


«Blinde Fläck» porträtiert am Anfang das Leben eines Kommunisten namens «Chris», welches nachdenklich stimmt und zeigt, wie viel Aufbruch und Veränderungen mit der Zeit vor allem am Geld und der gesellschaftlichen Norm scheitern. Später zeigt sich Mü Man weltoffen und zeichnet ein Bild einer Multikulti-Gesellschaft, die auch heute noch erstrebenswert ist. Das Ganze wird von Generation zu Generation weiter gereicht und lässt zum Schluss kommen, dass es nie zu spät ist, für eine gute Sache einzustehen.


«Stadtrand» mit den Gästen Weibello und Migo ist eine beschwingte Nummer, die keinen Kantönligeist kennt und verbindend revolutionär wirkt. Eine coole Kollaboration zwischen Zürich, Zug und Bern, die Grenzen einreisst und bereits beim ersten Durchhören zu einer echten Perle des Longplayer avanciert. Sehr gelungen!

«Fluss» trumpft mit Mü Man’s Nachdenklichkeit und einem verträumten Beat, welcher sofort unter die Haut fährt. Die Angst vor Veränderung ist eine der tragenden Komponente dieses Liedes, welche sich auch in den vorherigen Liedern spiegelt. Es ist sehr berührend, wenn Mü das Gefühl beschreibt, wie er sich hin und wieder im Kreis dreht, sowie nicht wirklich weiss, ob jetzt dies gut oder suboptimal ist. Das Werk ist einfach eine spannende Abhandlung über die eigene Existenz.


«MDNM» feat. Fratelli-B und Visu ist ein verdammter Banger. Endlich gibt’s wieder mal neuen Stuff von der Zuger Kultband, welche sich bei ihrem Gastspiel definitiv nicht lumpen lässt. Während Flap einen Refrain zum Besten gibt, der sofort die Hände zustimmend in die Höhe schiessen lässt, legt sein älterer Bruder Chandro die Messlatte mit einem charismatischen und humorvollen Part ziemlich hoch. Willkommen zurück Telli-B! Hier werden die eigenen Prinzipien abgefeiert und aufgezeigt, dass der eigene Weg eben doch die bessere Option ist, als bloss eingetretene Pfade zu beschreiten. Beim grandiosen Gipfeltreffen darf natürlich auch der grandiose Luzerner Battle-MC Visu nicht fehlen. Sein Prinzip «Legende oder Penner am Bahnhof» gefällt mir sehr gut und wirkt brutal motivierend!  


«Rückspiegel» ist die erste Singleauskopplung, die ich sofort nach dem Erscheinen mit den Worten «So ehrlich und drum zimli genial! Wiiter so!» auf Youtube kommentiert habe. Ich bleibe da bei meiner Meinung, weil der mir beim ersten Hören direkt ziemlich unter die Haut gefahren ist. Ein perfekter Song, um aufzuzeigen, dass da in Kürze ein Longplayer erscheint, welchen man sich anhören sollte.


In «Dachfenster» zeigt Mü Man, wie wahnsinnig talentiert und flexibel er als Sprechgesangskünstler ist. Nicht umsonst räumt er regelmässig an Battles ab. Er ist ein facettenreicher und ziemlich kompletter MC, der nicht nur davon spricht, sondern Nägel mit Köpfen macht und hier ein bärenstarkes Album veröffentlicht hat.


Schlussfazit:
Mü Man ist mit «Nachtblind» ein Album gelungen, welches zeitlos und facettenreich klingt. Auf dem Tonträger wechseln sich leichte, hoffnungsvolle Frühlingslieder, mit nachdenklichen Tracks ab und mit «MDNM» ist ihm sogar ein regelrechter Partytrack gelungen. Anders als bei anderen Mundart-Rap-Veröffentlichungen hat der Zürcher sehr viel Tiefe in seinen Texten und grandiose Metaphern am Start, die zum Nachdenken anregen. Mit Sozialkritik wird nicht gespart und doch versinkt der Rapper nie in Hoffnungslosigkeit, sondern liefert Lösungsansätze, um das Leben seiner Hörerschaft zu optimieren. Es ist eine sehr kurzweilige Platte, die hoffentlich hoch oben in der Hitparade Platz nehmen wird und zeigt, wie viel Grossartiges auch im neuen Jahrzehnt aus Leidenschaft und Liebe zum Rap entstehen kann.

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