Gleich dem Schöpfer
Bild/Illu/Video: Lucas J. Fritz

Gleich dem Schöpfer

Ich habe ein Huhn getötet. Das Tier war alt und wurde von seinen Stallgenossen täglich blutiger verpickt. Die Natur ist unbarmherzig. Der Mensch hat die Entscheidungsgewalt zur Barmherzigkeit. Das Tier wollte sterben, jedes einzelne Mal, als ich zur Fütterungszeit in den Stall trat, versteckte sich ebenjenes weisse Huhn mit blutig verpicktem Kopf und fehlenden Schwanzfedern hinter meinen schützenden Beinen. Mitleid durchfuhr mich jedes einzelne Mal.


Dieses Tier litt Angst vor seinen eigenen Artgenossen, so wie seine früheren Artgenossen einmal Angst vor ihm litten mussten.

So geschah es dann vor einiger Zeit, dass die Entscheidung über Leben und Sterben bei diesem Tier gefällt wurde. Für den Bauern eine scheinbar rein ökonomische Entscheidung, doch ich fühlte sein Mitleid dem Tier gegenüber, nur sprach er es nicht aus. Ungesagte Worte habe die grösste Bedeutung. Ungeschriebene Gesetze die tiefste Verankerung in der menschlichen Gesellschaft.


Wie wird ein Huhn getötet? Zuerst muss es eingefangen werden, dabei gilt es sich innerlich wie äusserlich so ruhig wie möglich dem Tier zu nähern. Hat man es einmal in den Händen, so gilt es letzte Gedanken oder Worte zu äussern, doch auch hier gilt in meinen Augen die These «ungesagte Worte haben die grösste Bedeutung» - den das Wort, der Gedanke, die Sprache - sie verfälscht die Welt, macht fassbar was unfassbar bleiben soll und zwängt die Welt in die Worte hinein, wo doch die Welt grösser als Worte ist.


Ich wusste nicht was für Gedanken ich dem noch lebendigen Tier widmen möchte. Ich hatte keinerlei Ahnung, wie man sich von einem Tier verabschiedet, dem man bewusst und mit voller Absicht das Leben nehmen wollte. Als das Tier mit dem Kopf und Hals auf dem Holzpflock lag und seine Flügel und sein Rupf fest in meiner rechten Hand umklammert lag, nahm ich die Axt zur Hand. Angst durchfuhr mich, doch kein Zweifel um die Richtigkeit meiner bevorstehenden Tat störte mein Gewissen. Dieses war rein.


Ein Gleichnis: Höhenängstige fürchten sich vor dem Hinunterspringen aus grosser Höhe. Auch ich fürchte mich vor Höhen, und auch ich muss mich überwinden aus der Höhe mich fallenzulassen. Tiefe Atemzüge kündigen die Unausweichlichkeit der bevorstehenden Tat an. Kein Gedanke durchzuckt das Hirn, kein Gefühl stört den Fokus. Fest halte ich die Axt in meiner Hand umklammert. Fest halte ich das totgeweihte Huhn in meiner anderen Hand. Dann hole ich aus.


Mein erster Schlag auf den Nacken des Huhns trennt den Kopf nicht sauber ab. Das Huhn leidet gewaltige Schmerzen wegen meiner fehlenden Treffsicherheit, die sich in der Angst vor der Tat begründet. Mein zweiter Schlag, der gefühlt eine Ewigkeit später erfolgt, trennt den Kopf sauber vom restlichen Körper ab und fällt in den hinter dem Holzpflock liegenden Kessel, in welchem bereits einige Köpfe liegen. Obwohl Kopf und Körper bereits voneinander getrennt sind, bewegen sich noch beide Teile. Ich halte das Huhn so, sodass sein Blut aus seinem Halsansatz herausströmen kann.


Den sterbenden Körper in meinen Händen haltend, spüre ich wie das Blut noch warm durch das Tier fliesst und werde mir meiner Barmherzigkeit bewusst. Doch ich werde mir auch völlig bewusst, dass dieses Tier mit einem Schlag hätte sterben sollen.


Was folgt, ist das Eintauchen des Körpers in heisses Wasser, sodass die Federn leichter zu lösen sind. Alles was ich tue, tue ich langsam, nicht bewusst, ich kann einfach nicht anders. Der Schock meiner Tat sitzt tief. Ich bin gleich dem Schöpfer und habe ein Leben genommen. Doch das Leben des Tieres endete nicht ohne Grund. Aus Mitleid, aus Verzehrungsgründen und aus dem Grund des Alters hatte das Tier zu sterben.


Ob ich jemals wieder werde Huhn essen können? Ausnehmen konnte ich das Tier nicht, ich hatte schlichtweg nicht mehr die Kraft dazu. Auch fand ich, dass nicht alles am ersten Tag, beim ersten Mal geschehen und gelernt werden musste. So sah ich dann dem Bauern zu, der dies schon unzählige Male getan haben musste, wie er den gerupften Körper unter dem Hals und vom anderen Ende her aufschnitt, Magen und Gallenblase sorgsam entfernte, die restliche Eingeweide herausriss. Essbares vom Unverzehrbaren trennte und schliesslich den zum Verzehr geeigneten Teil der fünf Jahre alten Tochter in die Hände gab, damit sie es der Mutter brächte, und diese das Huhn wägen und schlussendlich einfrieren würde. Irgendwann waren alle Hühner getötet, gerupft und ausgenommen worden, sodass ich den Eimer mit den Überresten ergriff, zum nächsten Waldrand lief und ihn ausschüttete. Die Füchse würden sich in der kommenden Nacht daran erfreuen können.


Als ich mir die blutigen Hände wusch, blickte ich mir durch den Spiegel selbst in die Augen und erschrak zuerst ab meinem Blicke. Etwas Neues nahm ich in meinem Blicke wahr. Etwas Neues hatten meine Augen gesehen und erlebt.  Es schien Scheue vor mir selbst zu sein. War ich noch derselbe Mensch nach dieser bewegenden Erfahrung? Ängstigte ich mich vor mir selbst und den Taten, zu denen ich scheinbar in der Lage war zu vollbringen? Lange starrte ich mich selbst an und ergründete schliesslich das Ungekannte. Es war die Erfahrung gleich dem Schöpfer zu sein. Ich hatte ein Leben genommen. Würde ich jemals in meinen Leben eines geben?


Würde ich jemals ein Leben geben wollen? War dieses Huhn das erste und letzte Tier, das ich in meinem Leben je töten würde?

An jenem Abend schlief ich den Schlaf der Gerechten, traumlos zog die Nacht an mir vorbei und als ich am nächsten Morgen erwachte war ich immer noch derselbe Mensch, nur hatten meine Augen eine weitere Wirklichkeit der Welt erblickt und meine Hände eine Tat vollzogen, die es wie alles im Leben über Zeit und mit Geduld innerlich zu verarbeiten gilt.

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