«Ehrensache»
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«Ehrensache»

Er hatte sich bereits auf eine längere Wartezeit eingestellt, als ein Wagen die Fahrt verlangsamte und auf seiner Höhe zum Stehen kam. Erstaunlich, dachte Frank. Wenn es erst einmal eindunkelt, hält in der Regel kein Mensch mehr an.

«Wohin denn?»

Die Stimme kam aus dem spaltbreit geöffneten Beifahrerfenster. Frank zögerte keinen Moment und öffnete die Tür, bevor er antwortete. Alte Mitfahrerweisheit: Ist die Autotür erst einmal offen, wird man meist auch mitgenommen. Die Innenbeleuchtung des Wagens war schwach und Frank erkannte kaum Details. Ein Mann, mittleres Alter, mehr war nicht auszumachen.


«In Ihre Fahrtrichtung. Soweit wie möglich. Ich brauche nur was für die Nacht, morgen geht es weiter.»


Der Mann hinter dem Steuer schwieg, das Gesicht der Frontscheibe zugewandt. Frank glitt auf den Beifahrersitz, schlug die Tür zu und schnallte sich an.


«Morgen geht es weiter», wiederholte der Fahrer mit tonloser Stimme und liess den Wagen anrollen. Frank warf einen verstohlenen Blick nach links, aber nun war es wieder dunkel im Innern des Autos, nur das veraltete Armaturenbrett warf ein fahles Licht. Das Gespräch suchen, dachte er sich, das richtige Thema finden, dann vergeht die Fahrt wie im Flug, und morgen konnte er sich die Fahrgelegenheiten wieder aussuchen.


«Schön, dass Sie angehalten haben. Wird nicht einfacher mit der Autostopperei, wenn es erstmal dunkel ist.»


Der andere nickte langsam. «Ich helfe gern. Ehrensache.» Er setzte den Blinker Richtung Autobahneinfahrt. Frank atmete innerlich auf. Das sah nach einer schönen Wegstrecke aus, die er heute schaffen konnte. Er hatte sie seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen und die Bahn

war bei seinem Kontostand keine Option. Mit ein bisschen Glück war er morgen Mittag bei ihr. Endlich wieder bei ihr.


Auf der Autobahn herrschte kaum Verkehr. Die Nadel des Tachos blieb dennoch stoisch auf der erlaubten Marke. Ein gesetzestreuer Bürger, dachte Frank und lehnte sich zurück. Egal. Er hatte Zeit. Sofern ihn der Mann irgendwo in der Zivilisation ablud, würde sich eine kostenlose Behelfsunterkunft finden lassen, eine Bahnwartehalle, eine unverschlossene Garage, was auch immer. Mit jedem Meter Autobahn kam Frank seiner Sehnsucht näher. Da spielten ein paar Stundenkilometer mehr oder weniger keine Rolle.


Einige Minuten herrschte Stille im Wagen. Nicht mal das Radio lief. Die meisten Autofahrer nahmen Leute wie ihn mit, um sich die langweilige Fahrt allein hinter dem Steuer zu verkürzen. Vielleicht war der hier eine Ausnahme, aber es war ein Gebot der Höflichkeit, es

wenigstens zu versuchen.


«Wo müssen Sie denn hin?»

Der Mann lachte kurz und scheppernd auf. «Ich muss gar nichts.»

Frank lachte ebenfalls, weil es ihm passend schien, aber als er sich selbst hörte, klang es furchtbar unecht.


«Okay, dann eben: Wo wollen Sie denn hin?»

Erstmals blickte der Lenker zur Seite. Frank sah aus dieser Distanz, dass der Mann jünger war, als er zunächst gedacht hatte. Die Haut war faltenfrei, das Haar voll. Die Augen wiederum wirkten seltsam alt und müde und ausdruckslos. Der Mann blickte Frank an und gleichzeitig durch ihn hindurch, als würde er ihn gar nicht wahrnehmen. Als wäre er blind.


Klar, dachte Frank. Der Mann ist blind und fährt Auto und hält an, um einen Autostopper mitzunehmen und biegt dann auf die Autobahn ein.


Himmel, reiss dich zusammen. Der Typ ist seltsam, aber nicht blind.

«Ich will an den Ort meiner Bestimmung», sagte der Mann hinterm Steuer. «Dorthin, wo ich hingehöre.»

Doch ein Freak. Aber man kann sich seine Mitfahrgelegenheit eben nicht aussuchen. Nachts jedenfalls nicht.


«Genau wie ich. Bin unterwegs zu meiner Freundin. Fernbeziehung. Ziemlich anstrengend, vor allem, wenn man sich kein Auto leisten kann. Aber dank Ihnen werde ich ja bald…»

«Money, money, money, must be funny, in the rich man’s world.»

Der Mann hatte aus dem Nichts heraus mit dem alten ABBA-Song begonnen und Frank mitten im Satz unterbrochen. Dazu schlug er mit einer Hand auf dem Armaturenbrett den Rhythmus, während er mit zwei Fingern der anderen Hand das Steuer mehr schlecht als recht auf Kurs hielt. Frank zog zischend die Luft ein. Das hier war selbst für ihn eine Premiere. Aber andererseits: Im eigenen Auto konnte jeder singen, soviel er wollte. Also tun, als wenn nichts wäre.


«Die alten Schweden. Haben selbst ganz schön Kasse gemacht mit dem Lied, was?» Frank bemühte sich, seine Stimme zu kontrollieren. Eine Tafel kündigte eine Ausfahrt in zwei Kilometern an. «Hören Sie, wie gesagt, wirklich toll, dass Sie angehalten haben…»


«Ehrensache!» sagte der Mann, nun wieder mit tonloser Stimme. «Ich helfe gern. Helfersyndrom. Kennst Du das?»

«Jedenfalls ist mir schon gedient, wenn Sie mich bei der nächsten Ausfahrt rauslassen. Für heute bin ich weit genug gekommen.»


«Glaub ich nicht. Hast doch gesagt: So weit wie möglich. Mache ich doch glatt. Ehrensache! So. Weit. Wie. Möglich.»


Okay, dachte Frank, dem es inzwischen definitiv zu weit ging. Die nächste Tafel. 1500 Meter. Ein einziges überzeugendes Argument und dieser Spuk hier war zu Ende.


«Sie wollen helfen? Sie helfen mir, wenn Sie mich da vorne rauslassen. Müssen nicht mal rausfahren. Einfach vor der Ausfahrt auf den Pannenstreifen, ich hüpfe raus, den Rest mache ich schon.»

Der Mann drehte sein Gesicht wieder Frank zu. Die müden, alten Augen waren inzwischen seltsam weit hervorgetreten.


«Helfen ist was Einsames. Immer helfen. Anderen helfen. Schön, dass ich wenigstens jetzt nicht alleine bin. In diesem Moment.»

Frank schluckte. Aussteigen bei voller Fahrt war keine Option. Und nüchtern betrachtet konnte ihm nichts passieren. Er war in Form und der Mann hinterm Steuer wirkte nicht besonders sportlich. Jetzt war die Ausfahrt zu sehen.


«Dort vorne? Dort willst du raus?»

Frank atmete auf. «Exakt. Perfekt für mich. Wirklich.»

«Für mich auch.» Der Mann setzte den Blinker. «Perfekt. An den Ort der Bestimmung, richtig?»


«Klar.» Jetzt bloss nicht widersprechen und dann hat das hier ein Ende. Frank hatte die Hand bereits am Türgriff. Er spürte, wie der Wagen leicht beschleunigte. Die Gabelung lag jetzt direkt vor ihnen. Die Autobahn schnurgerade, die Ausfahrt rechts, im grünen Dreieck

dazwischen der Baum. Frank riss den Kopf herum. Die Hände des Fahrers umklammerten das Steuer, die Knöchel der Finger traten weiss hervor.


«Wir beide helfen uns. Okay? – Ehrensache!»

Und da war der Baum.
















Mehr zum Autor

Stefan Millius schreibt, weil er buchstäblich nichts anderes kann. Als Chefredaktor der Zeitung «Die Ostschweiz», als Ghostwriter für Leute, die mehr können als er (aber nicht schreiben) und als Romanautor. Seine grosse Liebe gehört aber dem Film. Aus seiner Feder stammen unter anderem die Buchvorlage und das Drehbuch zum Kinofilm «Himmelfahrtskommando». Er wohnt je zur Hälfte in Appenzell und in der Au im St.Galler Rheintal und ist, um allfälligen Plagiatsvorwürfen sofort begegnen zu können, mit einer Rechtsanwältin liiert.

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