Du hast alle Zeit der Welt
Bild/Illu/Video: Milena Rominger

Du hast alle Zeit der Welt

Kaum bin ich aufgestanden, sitze ich schon wieder im Pyjama vor dem Laptop und schreibe. Und nicht nur die Tage schmelzen wie Eis in der Sonne, die Wochen, die Monate, die Jahre rinnen mir durch die Finger. Und leider Gottes ist nirgendwo ein Pausenbutton zu sehen. Wie oft wünschte ich mir, die Zeit anhalten zu können. Genau diesen Augenblick zu verewigen, oder jeden Tag um nochmal 24 Stunden zu verlängern.


«Sobald man Kinder hat, merkt man erst wie schnell man alt wird.»

Auch das ist einer der berühmten Sätze meines Alltags. Ja ich sehe meine grauen Haare und kann kaum fassen, dass ich schon über dreissig bin. Ich kann fast nicht glauben, dass sich die 2 vornedran für immer verabschiedet hat. War das in meinen Augen mein ewiges Zeitalter. Ein niemals enden wollendes, goldenes Jahrzehnt. Wahrscheinlich die aufregendste Zeit meines Lebens. Und schwupps; geh ich auf die vierzig zu.


Dieser Artikel soll aber nicht in einem Gedöns enden, er soll zur Aufklärung des Zeitgefühls dienen. Zugegeben kann man sich unter Druck setzen, wenn man Sätze wie diese hört. Schliesslich ist schon so viel Zeit vergangen und man hat vielleicht noch nicht alles erlebt oder getan, was man hätte tun müssen, sollen oder wollen. «Die Ausbildung hätte ich gerne noch gemacht, diese Reise, ach wie gerne hätte ich ein Haus gebaut, jetzt bin ich schon so alt und habe immer noch kein Geld zusammengespart, wie machen das andere Leute in meinem Alter?» Könnte man sich fragen. Vielleicht sind das Fragen, die du dir auch stellst.


«Man lebt nur einmal.»

Ist auch so ein Wink mit dem Zaunpfahl. Ja und wann ich sterbe weiss niemand. Vielleicht gerade deshalb leben so viele Menschen auf der Überholspur. Wir möchten die Karriereleiter raufklettern, ein Haus besitzen, ein teures Auto und so weiter. Und wenn wir das alles erreicht haben, dann wollen wir erst recht noch mehr. Wir schenken uns keine freie Minute. Ein «verplämperleter» Sonntag ist ein verlorener Sonntag! Unproduktiv zu sein und Gedankenlos, reine Zeitverschwendung!


Und genau so denke ich ab und zu auch. Ja ich gebe es zu. Und deshalb finde ich, übt diese Corona Gefangenschaft genau einen ungeheuren Reiz auf uns aus. Jetzt müssen wir die Sonntage «verplämperlen», wir dürfen auch mal nichts tun. Niemand ist hier, der Druck auf uns ausübt noch mehr zu arbeiten. Ausser vielleicht in den Spitälern. Aber was ich eigentlich sagen möchte ist, dass es sich nicht lohnt, sich selbst zeitlich unter Druck zu setzen. Oft wäre es besser, wenn wir so tun würden, als hätten wir alle Zeit der Welt. Probiert es mal für einen Tag aus! Das nimmt uns eine grosse Last von den Schultern. Lässt uns unser wahres Ich entdecken, unsere tiefsten Sehnsüchte und Wünsche. Und dazu scheint sich der Zeiger auf der Uhr plötzlich langsamer zu bewegen. Wenn man sich Zeit nimmt, ist man wohl der reichste Mensch auf diesem Planeten. In der Zeit entstehen die wundervollsten Ideen, in der Zeit kann die Liebe fliessen. Ich zum Beispiel spüre keine Liebe, wenn ich meine Pflanzen unter Zeitdruck giessen muss. Nehme ich mir Zeit dafür, mache es langsam und bedächtig, erlebe ich eine intensive Ruhe und kann die Liebe spüren. Daraus wird ein Ritual. Ich glaube, wir können besser wir selber sein, wenn wir Zeit bis zum abwinken haben. Oder wenigstens so tun.

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