Der Bock und sein Harem
Mein Blick verweilt bei der Mutter und ihrem Jungen, bis ich hinter den beiden weitere Schafe erblicke. Da kommt ein gehörnter Bock getrabt, gefolgt vom Rest seines Harems, ganze fünf Damen folgen da. Alle Tiere tragen langes Fell, das stellenweise ganz kurz ist. Vermutlich haben sie sich an rauen Felsen getrieben, bis ihr Fell sich löste. Mein Gott, wie diese Tiere an der Hitze schier verschmachten müssen. Man muss wissen, dass Schafe nicht wie wir über die Haut Wärme und Wasser abgeben und deshalb überhitzen können. Tagsüber ist es in diesem Tal auch im Schatten bis zu dreissig Grad heiss und es gibt nur wenige Schattenplätze. Es gibt keine mir bekannte Quelle, doch insgeheim glaube ich, dass hier irgendwo Wasser aus dem Boden entspringen muss, denn diese Schafe werden ihren Flüssigkeitsbedarf nicht bloss von den wenigen Gräsern und Sträuchern sättigen können.
Ich nehme mir vor den Schafen einmal zu folgen. Über die vergangene Woche hinweg ist mir ein Muster aufgefallen. Die Tiere halten sich beispielsweise am Morgen immer am Nordhang des Tales auf, während sie gegen Abend immer weiter gegen Osten ziehen und in der Abenddämmerung ziehen sie jeweils unter der Führung des gehörnten Bocks Richtung Westen. In der zweiten Nacht nach meiner Ankunft auf diesem atlantischen Eiland, kam die Herde nicht zur Ruhe. Es war Neumond und ein Zicklein blökte mitleidserregend bis weit in die Nacht hinein. Es hatte vermutlich seine Herde verloren und wusste nicht wohin des Weges. Die Mutter, ich nehme zumindest an, dass es die Mutter war, blökte stundenlang zurück und just als ich mich zur Hilfe aufgefordert sah und mit Taschenlampe nach dem rechten sehen wollte, schien das Zicklein wieder zu seiner Herde zurückgefunden zu haben.
Ich sitze immer noch in einem Schlafsack und beobachte das Mutterschaf und sein Zicklein. Es trinkt nun nicht mehr, sondern springt zu den anderen Weibchen und wedelt ganz vergnügt mit seinem Schwätzchen. Von der Grösse her, hat es etwa die Masse eines Pudels, es wird erst wenige Wochen alt sein. Ich beuge mich etwas vor, um die Szene besser beobachten zu können, da höre ich irgendwo hinter mir plötzlich Steinchen rieseln. Sofort blicken alle Schafe in meine Richtung. Ich habe keine Chance unentdeckt zu bleiben und so verharre ich stockstill. Der Bock sieht mich als erstes. Er macht einen Schritt auf mich zu, ist immer noch etwa zwölf Meter von mir entfernt und zieht laut hörbar die Luft in die Nase. Ob er mich wohl wittert? Der Wind hat noch nicht gedreht. Unmöglich, dass diese Tiere mich nicht sehen. Der Bock macht nochmals einige Schritte auf mich zu und nun bin ich einem wilden Schaf so nah wie nie zuvor. Ich sehe dem Tier in die vermutlich braun-gelben Augen, nehme wahr, dass sein rechtes Horn an der Spitze abgebrochen ist - vielleicht von einem Kampf, denn diese Herde ist nur eine von zweien in diesem Tal, die andere zählt elf Schafe inklusive zwei Zicklein und vermutlich einigen jungen Böcken, die noch zu jung oder zu schwach sind um eine eigene Herde zu gründen - er trägt gelbliches Fell, das seine Farbe vermutlich der sandigen Erde zu verdanken hat.
Der Bock wird nur meinen Kopf gesehen haben, denn der Rest meines Körpers ist verborgen durch das steinerne Mäuerchen. Ich nehme sein Verhalten als neugierig wahr, denn er zeigt keine Angst, die anderen Tiere fressen in der Zwischenzeit ruhig weiter, da versuche ich Trottel das ganze Geschehen fotografisch festzuhalten. Mein Griff nach der Kamera in Zeitlupentempo jedoch scheucht den Bock schon auf. Määääh, gibt er den Befehl zur Flucht. Sofort rennen die sieben Schafe und das Zicklein hangwärts, wo sie erst nach hundert Metern oder mehr Halt machen. Der Bock bildet das Schlusslicht, immer wieder blickt er sich nach mir um, wie um sicherzugehen, dass ich seiner Herde nicht folge.
Seitdem wagen sich die Tiere nicht mehr in die Nähe meines Schlafplatzes, was ich zutiefst bedaure. Vermutlich sollte ich einen Ortswechsel in Betracht ziehen um den Tieren mit meiner Neugierde und Faszination von neuem auflauern zu können. Es ist wahrlich ein Paradies hier und ich schätze mich glücklich diese wilden Tiere von so nah beobachtet haben zu dürfen. Ich bleibe zuversichtlich, denn was einmal geschieht, das geschieht auch ein zweites Mal. Was gibt es bezauberndes als den Tag mit einer Wildtierbeobachtung zu beginnen?!