Brief an einen Toten
Bild/Illu/Video: Álvaro Serrano

Brief an einen Toten

Liebster,

Weisst du noch wie wir gemeinsam gesessen und geschwiegen haben? Wie du deinen Arm um meine Schulter gelegt und mir süsse Worte ins Ohr geflüstert hast. Oder wie wir Seite an Seite in Afrika durch die Strassen von Timbuktu gegangen sind und wie fröhlich und unbeschwert wir dabei waren. Weisst du noch wie wir allmorgendlich vom traurig-schönen Ruf des Muezzin geweckt wurden und wie oft wir uns danach geliebt haben, bevor der Tag für uns seinen Anfang nahm. Die Zeit mit dir, oh Liebster, ist die schönste Zeit meines Lebens gewesen. Niemehr, so glaube ich, werde ich imstande sein glücklich zu sein. Ohne dich bin ich nichts. Dein Tod hat mir allen Glauben an das Gute und Gerechte genommen. Ich bin überzeugt, dass alles Gute in mir, alles Glückliche von mir mit dir zu Grabe getragen worden ist. Jede Nacht höre ich dein unbeschwertes Lachen in meinen Träumen, sehe uns beide vor mir, so wie wir waren und sobald ich aufwache, bleibt nichts davon übrig. In meinen Träumen sehe ich dich, sehe wie glücklich du gewesen bist, wie wir beieinander gewesen und ohne Sorge durchs Leben geschritten sind. Wo bist du bloss? Ich vermisse dich so sehr. Meine Tage ohne dich sind trostlos. Meine Existenz ohne dich hat keinerlei Bedeutung. Wie oft habe ich bereits um dich geweint, wie oft habe ich tränenerstickt in meine Hände geschluchzt.


Als ich heute frühmorgends in Palermo die Strassenbahn bestiegen, habe ich jemanden gesehen, der dir glich und meinte du wärest es. Hoffnung keimte in mir auf, doch ich hatte mich getäuscht und so nahm der Tag wieder seine graue Trostlosigkeit an. Nach diesem kurzen Schimmer der Hoffnung versank ich von Neuem in meiner Trauer, versank tiefer als jemals zuvor. Wie soll ich ohne dich zu Leben imstande sein? Weshalb schreibst du nicht zurück? Wieso bleibst du so lange fort? Warum antwortest du mir nie auf meine Fragen? Es gibt niemanden ausser dir, der mir helfen kann. Ich bin verzweifelt und allein. Niemand steht mir nahe, niemand soll mir jemals wieder nahe stehen, weil dieser Platz allein dir gebürt. Ich halte ihn frei, bis wir wieder vereint sind.


Wie ist es dort, wo du gerade bist? Wie fühlst du dich? Bist du glücklich? Sehnst du dich nach mir, so wie ich mich unablässig nach dir sehne? Jeden Tag besuche ich deine Ruhestätte und jeden Tag bringe ich dir neue Blumen mit, wische das Laub weg und poliere das steinerne Grabmal. Manchmal sitze ich stundenlang bei dir und erzähle dir von unserer gemeinsamen Zeit. Du kannst mich doch hören? Du erhältst doch meine Briefe und du weisst doch mit Bestimmtheit um meine Verzweiflung. Warum schweigst du Liebster? Bin ich dir denn gar nichts mehr wert? So gib mir doch bitte ein Zeichen, du weisst doch wie sehr ich ohne dich leide.


Die Blüten der Birken gedeihen. Der Frühling hält seinen Einzug. Die Vögel zwitschern wie wild und bauen Nester für sich und ihre Jungen. Wie sehr hätte auch ich gerne ein Nest mit dir für uns und unsere Jungen errichtet. Alle Menschen ausser ich sind fröhlich, weil der Regen des südländischen Winters nun endlich sein Ende nimmt und der Wärme des Frühlings seinen rechtmässigen Platz überlässt. Tagelang habe ich in unserer Wohnung gesessen und deine Sachen angestarrt, weil ich die Fröhlichkeit der Menschen draussen nicht ertragen konnte. Ich habe dir deine Hemden gebügelt und habe in deinen Tagebüchern gelesen. Ich hoffe du verzeihst mir letzteres. In einem Moment des Zweifels habe ich mir eines ergriffen und habe mit Freude feststellen dürfen, dass du in deiner Niederschrift genau derselbe Mann bist, den ich gekannt habe. Deine Worte um unsere Liebe rührten mit zu Tränen.


Meine Tage in Palermo neigen sich ihren Ende zu, ich will hier nicht weg, wir nur bei dir bleiben. Wohin ich gehen werde, das weiss ich noch nicht. Vielleicht auf eine Brücke oder in das Turmzimmer eine hohen Kirche. Vielleicht werfe ich mich in einen Fluss oder höre einfach auf zu essen und zu trinken. Mein Leben ohne dich ist unerträglich. Ich halte es nicht mehr aus, und suche nach einem Weg, zu dir, hinaus. Lieber sterbe ich heute oder morgen, als dass ich dieses Leid für den Rest meines Lebens ertragen muss. Deine Tagebücher habe ich gestern verbrannt. Deinen Besitz und deine Kleidung an die Armen der Stadt verteilt. Meine eigenen Sachen und unsere Möbel habe ich auch fortgegeben. Unsere Wohnung vererbe ich meinem grossen Bruder, damit er mit den Kindern seines Waisenhauses Palermo besuchen kann. Und damit diesen jungen Seelen etwas zu bieten hat.


Deine Bücher waren mein letzter Halt. Nun stehe ich nackt und ausgesetzt vor meinem Leid. Es fühlt sich so an, als würde ich mit verbundenen Augen in der Höhe vor einem Abgrund stehen und jede der nächsten Böhen könnte mich in die Tiefe hinabstürzen lassen. Diesen meinen letzten von unzähligen Briefen an dich, gebe ich noch heute bei der Post auf, danach bin ich frei jederzeit über die Schwelle hinüber zu dir zu treten. Mein Grab wird neben dem deinigen sein, dafür habe ich bereits gesorgt. Von den gleichen Würmern werden unsere Leiber zerfressen werden. Doch unsere Herzen werden auf immer vereint bleiben. Ich liebe dich und verlasse dich nun, um mich auf den Weg zu dir zu machen. Denn nach nichts sehnt es mich mehr, als in deinen Armen zu liegen und deinen Duft zu riechen und deine geflüsterten Worte zu vernehmen. Bald werden wir wieder vereint sein. Bald wird es auch mich nicht mehr geben. Nicht in meiner Welt, dafür in deiner.

Für immer und auf Ewig

Deine Anne

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