«Asperae noctes»
«Ich sehe Nebel, viel Nebel und Nebelschwaden. Ich sehe Schleier, weisse bewegliche Schleier. Ich sehe viele weisse Schatten, ein durchsichtiger Schatten an einer Wand, ein weisser Schatten auf einer Treppe. Durchsichtig, fast milchig, und die Umrisse ähnlich eines Hutes. Ich sehe männliche Gesichtskonturen. Ich sehe eine Hand, sie winkt und zeigt auf die Wand. Ich spüre den aufheulenden Wind.»
Die sanfte, liebliche Stimme gerät ins Stocken. Stechende, kristallblaue Augen schauen auf von der Kristallkugel und fragen erneut: «Hören Sie das heulende Geräusch?» Die Wahrsagerin hält mit ihrer rechten Hand die leuchtende Kugel, mit der erhobenen linken und gestreckten Fingern gleitet sie darüber.
Helen erwidert amüsiert: «Nein, ich höre rein nichts, die Musik ist laut, die Gäste unterhalten sich lebhaft, wir feiern das Ende des alten und den Beginn des neuen Jahres.»
Im Hintergrund poltern die Beats eines elektronischen Songs der Vicious Pink im Refrain «Baby Please, cccan’t you see». Die Augen der Wahrsagerin Divina gleiten unruhig über die Zimmerdecke. Dabei klingeln die goldenen Taler an der Bordüre ihres rotfarbigen Kopftuchs.
«Ich höre ihn heulen und rufen. Es bedeutet, dass die ruhelosen Seelen zurückkommen, sie suchen Nahrung für ihre Weiterreise ...»
Helen möchte doch noch wissen: «Was sagt Ihr Orakel dazu?» Sie richtet ihren rechten Zeigefinger auf den halb durchsichtigen, milchigen Gegenstand.
Divina in weisser Bluse, schwarzem Korsett und rotem Rock gekleidet, winkt sie zu sich: «Kommen Sie näher, so verstehen Sie mich besser. Es wird zischen, pfeifen und zittern in den kommenden Nächten. Die Seelen werden hier vorübergehend verweilen und sich ernähren wollen. Sie werden so lange poltern, bis sie genährt sind.»
«Was heisst, sie ernähren sich? Was für Nächte? Ich verstehe nicht, wovon Sie da reden“, Helen ist stutzig und schüttelt ihren Kopf.
«Seien Sie gütig zu ihnen, schicken Sie sie mit viel Liebe und einer Dankesgabe weg, sonst bleiben sie hier und werden toben. Sie werden keine Ruhe mehr haben. Ich spüre Ungemach.» Divinas Aussage wirkt bestimmt. «Ich meine es ernst, ich erzähle Ihnen keinen Unsinn.»
Helen lächelt ungläubig und winkt ab: «Und was ist mit diesem weissen Schatten?»
«Es ist ein Geist. Ich spüre, dass er hier in diesem Schloss ist … eine unerlöste Seele.» Divina schaut umher und zeigt mit ihren stark beringten Fingern gegen oben.
«Freute mich, mit Ihnen zu reden, aber ich sollte mich jetzt auch noch um meine anderen Gäste kümmern, vielen Dank!», verabschiedet sich Helen mit mulmigem Gefühl.
Divina fasst nach Helens linker Hand, dabei klingeln wieder die vielen Armreifen an ihren Armen. «Ich meine es wirklich ernst, Signora Damiani! Bitte rufen Sie mich in den nächsten Tagen an. Es ist wichtig, was ich Ihnen dazu sagen will. Ich kläre Sie dann über viele wichtige Hintergründe auf. Heute hat dies kein Platz, es ist Euer Fest und wir wollen uns alle amüsieren. Hier haben Sie meine Visitenkarte, rufen Sie mich bitte an!» Darauf steht «Divina – Wahrsagerin, Karten-beratung, Lebenshelferin, Channeling – 323-226».
«Sicher, das tue ich ganz bestimmt, danke schön! Und amüsieren Sie sich auch ein wenig an unserem Silvesterball! Unsere eingeladenen Gäste freuen sich jedenfalls schon jetzt darauf.»
«Danke für die grosszügige Einladung! Es ist mir eine Ehre, mit der Gauklergruppe dabeizusein. Sie leben hier in einem wirklich wunderschönen Schloss!» Divina schaut Helen lange schweigend nach, so lange, bis sie sich in der Gästeschar verliert.
Helen sucht nach Tristan. Sie schlängelt sich beschwingt und tänzerisch durch die sich amüsierende Gesellschaft in mittelalterliche Kleider und Perücken verkleideten Gäste – alles ganz nach dem gewünschten Kleidungsstil in der Einladung. Tanzende Masken grinsen ihr entgegen. Sie hat beinahe das Gefühl, stechende Blicke seien auf sie gerichtet. Wurde sie durch die Wahrsagerin dermassen aufgewühlt oder bildet sie sich das nur ein?
«Meine Liebste! Endlich kommst Du zu mir! Ich habe Dich bei der Kristallkugel gesehen. Was hat denn die Wahrsagerin Dir so Interessantes erzählt?», zieht Tristan sie auf.
«Sie sagte mir von Seelen und Geistern!»
«Das sind ja sehr spannende Geschichten! Die kannst Du mir später schildern!», lacht Tristan sie aus und bittet sie zum nächsten Tanz.
«Schau, wie sich unsere Tochter und unsere Gäste so unbeschwert unterhalten, es ist ein rauschendes Fest! Das war eine gute Idee von Dir mit der mittelalterlichen Verkleidung und der Darbietung mit Feuerschlucker, Gaukler und auch der Wahrsagerin und alte Zeiten wieder aufleben lassen, wie es Bruder Riccardo uns mal vorschwärmte. Sieh Dir mal einer an: Trotz seines hohen Alters vergnügt er sich hier und tanzt mit unserer hübschen Tochter Mariella. Doch schön, befolgte er unsere Einladung zu diesem Silvesterball!», meint Tristan belustigt und zufrieden.
Eine Tanzkapelle stimmt mit Oboe, Fagott und Violine eine Ouverture ein. Die Paare stellen sich zum tänzerischen Takt der französischen Quadrille auf, Vortänzer der Gauklertruppe «Ser Sergio» machen es den Gästen vor. Die Artisten umrahmen mit grossen stacksigen Schritten auf Stelzen den beweglichen menschlichen Spalier; Feuerschlucker verleihen dem Tanz eine sinnlich gefährliche Atmosphäre.
«Mea globo vitreo. Audis quomodo ululatus ventus? Cum autem venerit animarum? Ubi autem spiritus in hoc castrum?» Divinas Hände umfassen fest die Kugel zur leisen Befragung. Ihre Augen sind konzentriert. Sie sieht eine farbige Wand, ein Gemälde. «Ego videre», flüstert sie.
Es ist bald Mitternacht. Die festliche Stimmung in der Sala Rossa erreicht ihren Höhepunkt: Der passende Moment für den Toast! Tristan stellt sich auf ein Podest. «Meine verehrten Gäste! Vielen Dank, dass Sie alle unserer Einladung gefolgt und gekommen sind, um dieses Fest unvergesslich zu machen – und sich auch sehr vergnügen. Demnächst schlägt es Mitternacht. Ich möchte diesen Moment zum Anstossen nutzen und wünsche Ihnen weiterhin einen schönen Abend oder eben auch eine schöne Nacht und ganz viel Glück im neuen Jahr! Prosit!»
«Prosit!», ruft die Gästeschar und erhebt das Glas.
«Ich habe Ihnen noch eine amüsante Saga zu erzählen. Vielleicht werden Sie hier in unserem Hause dem Schlossgeist begegnen! Ab und zu spukt es hier bei uns! Wenn Sie ihn angetroffen haben, lassen Sie es mich wissen, ich möchte ihn schon lange kennenlernen!», Tristan lacht dabei. Der erste Glockenschlag ertönt.
Divina vernimmt all die einzelnen Glockenschläge der Dorfkirche. Sie hat sich zur grossen Treppe geschlichen, schaut die Gemälde an. Sie hört den heulenden Wind und flüstert «Asperae noctes». Sie hört auch seltsame Geräusche wie Türen, die sich laut schliessen, und kläglich jammernde Stimmen. Sie erschaudert. Sie sieht eine Hand auf dem Treppenlauf. Diese winkt ihr zu, und sie folgt ihr. In der Dunkelheit sichtet sie einen Umriss ähnlich einer körperlichen Silhouette. Ist es der Schlossgeist? «Tu quis es?», fragt sie leise. Die transparente Hand streift über das Gemälde als würde sie malen, ist wieder auf dem Treppenlauf sichtbar und verschwindet beim zwölften Schlag.
Divina meint, einen Schrei zu hören. «O Deus meus!» Sie bekreuzigt sich, rennt die Treppe hinunter zurück in den Tanzsaal und setzt sich mit rasendem Herzklopfen zu ihrer Kristallkugel. Sie hält ihre Hände an die Schläfen: «Cristallum, amens es aut ego? Infernum ex dedisti metus! Et ego ostendam tibi nunc evanescunt!»
Die Kugel der Wahrsagerin verschwindet in ihrer Tasche. Auf dem Tisch bleiben lediglich ihre Tarotkarten.
War es Wahrnehmung ihres feinen Sinnes, etwa nur blosse Einbildung oder doch Realität? Erschrocken schaut sie der belustigten Gästeschar zu, wie sie mit Umarmungen und Küssen das neue Jahr begrüsst.
Tristan und Helen tanzen sichtlich vergnügt. «Was ist denn nun an dieser Geschichte mit dem Schlossgeist dran? Wir leben schon seit einigen Jahren hier und nie ist uns was aufgefallen?!»
«Tristan, diese Wahrsagerin meint es angeblich ernst, und ich habe wirklich ein ungutes Gefühl! Sie scheint mir keine Scharlatanin zu sein und will, dass ich sie anrufe, damit sie mir in Ruhe alles erklären kann!»
«Ja, dann telefonier ihr doch! Bin gespannt, was sie zu erzählen weiss. Vielleicht hat sie einen Hinweis zum geheimen Tunnel, den wir bis heute nicht gefunden haben!» Tristan zieht die Sache ins Lächerliche.
«Ja, das werde ich tun! Ich will es wirklich wissen!»
«Vielleicht sollte auch ich diese Wahrsagerin aufsuchen und mir Karten legen lassen?!», meint Tristan belustigt.
Divinas Augen beobachten die beiden. Aber nicht nur die ihrigen, es hat weitere davon hinter den tanzenden Masken, aggressive Blicke, welche Divina vermutlich kennt. Sie flüstert: «Ego videre aliquid venire. Ego habere avertat. Ego videre malum vultum tuis!», dabei berührt sie ihr Kruzifix an der Halskette.
«Hallo Divina, auch Du hier?», spricht sie eine maskierte Gestalt mit langer schwarzer Mähne an – und setzt sich zu Divina. Die Stimme kommt ihr bekannt vor, weiss im Moment aber nicht woher.
«Gotica?», fragt sie unsicher und fasst sich an ihre lange Halskette mit groben Perlen.
Die Maske verschiebt sich etwas vom Gesicht nach unten zum Hals. «Ja, ich bin die Gotica! Wir haben uns schon ganz lange nicht mehr getroffen. Mit Deinem schönen blonden und langen Haar siehst Du lieblich aus, genau so wie ein Engel. Ich habe Dich beobachtet, Du bist fleissig mit der Kristallkugel beschäftigt!»
«Ja, dem ist so! Und Du – immer noch aktiv in der Unterwelt?»
«Hast Du vergessen, wie reizend das Dunkle ist?»
«Nein, überhaupt nicht, ich möchte nur noch Gutes tun, das Dunkle will ich nicht mehr! Heutzutage helfe ich verzweifelten Menschen. Warum bist Du hier?»
«Aus demselben Grund wie Du! Wir spüren beide das Jenseits und nehmen die unerlösten Seelen wahr. Hast Du den Wind aufheulen gehört?»
«Ja.»
«Was hast Du der Schlossherrin vorhergesagt?»
«Das darf ich Dir doch nicht sagen, das ist mein Berufsgeheimnis.»
«Weisst Du denn was von diesem Geist hier?»
«Ich habe es heute Abend gerade vorhin vom Schlossherrn gehört, wie alle hier.»
«Wenn Du wieder mal Lust auf eine dunkle Sitzung empfindest, bist Du bei uns immer noch willkommen. Imperator ist übrigens auch hier. Ich begleite ihn. Hast Du ihn schon entdeckt?! Ah, vielleicht nicht, er trägt nämlich eine ganz neue Maske. Mit der anderen kann er sich nicht mehr zeigen, das wäre zu riskant, Du weisst schon weshalb. Vermisst Du ihn nicht ein bisschen? Dir gefielen seine Spiele, und Du warst eine seiner Lieblingshexen von uns fünf. Wir beide gehörten zu seinen exklusivsten Gespielinnen. Du weisst ja, wie und wo Du uns findest; wir zelebrieren immer wieder Taufen, Rituale oder römische Feste. Imperator hat Dir lange nachgetrauert, ich gab ihm Trost.
Vielleicht möchte die Schlossherrin auch mal zu uns kommen. In den meisten Menschen verbergen sich geheime Wünsche und Fantasien. In unserer Gemeinschaft ist es möglich, dies alles auszuleben, ganz diskret. Mit den anderen Mädels bin ich nächste Woche bei ihr wieder zum Tee eingeladen; habe den Eindruck, sie interessiert sich sehr für das Abnormale. Protinus te videre.»
Gotica verdeckt ihr Gesicht mit der Maske, erhebt sich und zieht mit einem verschmitzten Lächeln davon.
«Vipera!», zischt Divina.
Draussen braut sich eine Gewitternacht mit Blitz und Donner zusammen. Der Wind heult auf. Die Seelen werden kommen oder sind schon da, ruhelos, laut und mächtig. Und sie poltern dann so lange, bis sie sich fertig genährt haben.
Mehr zur Autorin
Sina Merino wurde am 25.3.1969 in Olten (SO) geboren, als Tochter neapolitanischer Emigranten. Sie wuchs mit ihrer Familie in Gretzenbach (SO) auf, 1993 zog sie in den Kanton Aargau und lebt seit 2007 in Aarau Rohr. Nach ihrer kaufmännischen Ausbildung erfolgte ihre berufliche Laufbahn in der Finanzbranche und absolvierte ihr Studium als Finanzplanungs-Expertin.
Ihre kreative, schriftstellerische Ader entwickelte sie bereits als Schülerin, indem sie gerne Aufsätze schrieb. Ihr erstes Werk «Die Papierfabrik» erschien im 2003, dessen einzelne Passagen im 2011 ins Englische übersetzt wurden für ein Fachbuch, geschrieben von Prof. Margrith Zinggeler und in den USA veröffentlicht wurde. Im selben Jahr hat die Autorin während eines Aufenthaltes in Argentinien «Die Papierfabrik» selber verfilmt. Es handelt sich um eine wahre Geschichte zur Doppelmigration und der Erfahrung mit der Diktatur.
Im 2013 ist Sina Merinos zweites Werk und erster Roman erschienen «Nebel über Durban», die Geschichte einer italienischen Adelsfamilie, die eine Kaffeeplantage in Südafrika kauft und den benachteiligten, farbigen Bauern eine verbesserte Lebensmöglichkeit gibt entgegen dem entwürdigendem Apartheid-Regime.
Im 2015 wurde «Die Papierfabrik» neu aufgelegt und gleichzeitig ins italienische übersetzt «La Cartiera» und im 2017 wurde der Roman «Nebel über Durban» auf italienisch veröffentlicht «Nebbia su Durban». Die kulturelle Vereinigung Joseph Beuys, mit Sitz in Cava de Tirreni, verlieh ihr im 2016 den Titel «Internationale Kulturelle Botschafterin». Die Autorin hat zahlreiche Lesungen gehalten in der Schweiz und in Italien. Im Februar 2020 wurde kurz vor dem Lockdown ihr erster Thriller «E38» veröffentlicht, dessen Geschichte unweit der aktuellen Situation mit dem Covid handelt, einer synthetischen Droge die den Alterungsprozess beschleunigt und sich über die Kontinente verteilt.