«Martin»
Es ist Anfang Dezember. Martin hat letzte Woche seinen Führerschein bestanden und seine Eltern haben ihm zum 18. Geburtstag ein Auto – einen alten 4er VW Golf - geschenkt. Für ihn ist das gleichbedeutend mit Freiheit und Unabhängigkeit. Nun braucht er nicht mehr auf den Bus warten, der nur zur vollen Stunde im Dorf hält und dessen letzte Tour um 22 Uhr endet.
Martin hat im Sommer sein Abitur mehr schlecht als recht bestanden, aber so richtig was damit anzufangen weiss er bis jetzt noch nicht. Während seine Schulfreunde entweder in die Grossstadt zum Studieren gezogen, oder eine Ausbildung angefangen haben, weiss Martin nicht so richtig, was er mit seiner neu gewonnenen Freiheit anfangen soll.
Seine Eltern haben ihm ein Ultimatum gesetzt. Wenn er sich bis Jahresende nicht um eine Ausbildungsstelle kümmert, müsse er bei seinem Vater im Betrieb eine Mechaniker-Lehre machen. Wenn Martin eines weiss, dann dass er ganz sicher nicht mit seinem Vater und schon gar nicht unter ihm arbeiten möchte. Er mag seine Eltern, aber seinem Vater kann man es nie recht machen. Alles weiss er besser und nichts ist gut genug. Martin möchte raus. Raus aus dem kleinen Dorf, wo jeder jeden kennt und raus aus dem Haus seiner Eltern, wo sein Vater immer alles besser weiss.
Eine Ausbildung hat Martin zwar noch nicht gefunden, doch er hat für eine Wintersaison einen Job als Kellner in einem Berggasthof, mitten in einem grossen Skigebiet, bekommen. Für Martin ist es das erste Mal weiter weg von zu Hause. Er hat eine lange Autofahrt vor sich, doch er freut sich. Der Wecker in seinem Kinderzimmer klingelt. Seine Mama hat schon einen warmen Kakao für ihn gemacht.
Insgeheim hatte seine Mutter gehofft, dass Martin sich für die Ausbildung bei seinem Vater entscheidet. Doch jetzt geht Martin gleich für sechs Monate in die Fremde. Ihr Martin verlässt sein Nest und sie bleibt hier.
Martin trinkt schnell seinen Kakao und zieht sich an. In dieser Zeit kontrolliert seine Mama noch einmal, ob er auch wirklich alle wichtigen Papiere eingepackt hat. Martin wirft seine Reisetasche in den Kofferraum und verabschiedet sich flüchtig von seinen Eltern, so als ob er in ein paar Stunden wieder zurück ist. Grosse Abschiedsszenen mag hier niemand gerne. Nur seiner Mutter rollten ein paar Tränen über die Wangen, als er aus dem Hof fährt und sie nur noch seine Rücklichter um die Ecke biegen sieht.
Sie hatten vereinbart, dass Martin sich meldet, sobald er angekommen ist. Bei Google Maps war die schnellste Route mit 4:20 Stunden angegeben. Seiner Mutter sagte Martin, dass er mit Pausen sicherlich 6 Stunden brauchen werde und er so gegen 16:00 Uhr im neuen Zuhause für den Winter ankommen werde.
Es ist 14:00 Uhr, als Martin auf einem kleinen Rasthof Pause macht. Er hat Hunger und möchte sich die Beine vertreten. Er hatte die lange Autofahrt so ganz alleine doch etwas unterschätzt. Die Musik und immer wieder etwas trinken hat ihn zwar wach gehalten, doch es ist schon ziemlich langweilig, so ganz alleine auf der Autobahn. Nach einer halben Stunde Pause beschließt Martin weiterzufahren, damit er rechtzeitig ankommt und seine Mutter sich keine Sorgen machen muss.
Gerade als er auf die Autobahn fahren will, sieht er einen jungen Mann, der ungefähr in seinem Alter ist. Er hält ein Pappschild in der Hand mit dem Namen des Ortes, der auch das Ziel von Martin ist. Daher überlegt er keine Sekunde, sondern hält direkt an und fragt, ob er mitfahren will. Der junge Mann freut sich und nimmt auf dem Beifahrersitz Platz.
Martin ist froh, dass er den Rest der Strecke nicht mehr alleine im Auto ist und sich mit Kai – so heisst der junge Tramper – unterhalten kann. Die beiden verstehen sich super und teilen sogar den gleichen Musikgeschmack. Kai ist, genau wie Martin, auch 18 Jahre alt und auch er möchte in der Wintersaison in diesem Bergdorf Geld verdienen. Im kommenden Sommer wird er dann sein Studium in Forensik beginnen. Kai erzählt Martin, dass ihn Kriminalfälle und Verbrechen schon immer total fasziniert haben. Ganz besonders spannend findet er ungeklärte Verbrechen, wenn Menschen zum Beispiel spurlos verschwinden. Kai fasziniert dabei wohl am meisten, wie das heutzutage noch möglich ist, wo man doch aus winzig kleinen Hautschuppen schon die DNA eines Menschen bestimmen kann und die Techniken und Analysen sich fast täglich verbessern in diesem Bereich.
Martin hatte sich bisher noch nie mit diesem Thema befasst, doch sein Mitfahrer ist total begeistert davon und Martin kann sich gut vorstellen, dass Kai den richtigen Studiengang für sich gefunden hat. Vielleicht weiss er ja nach diesem Winter in den Bergen auch, was ihn interessiert, was er studieren mag.
Es ist 16:00 Uhr. Martins Mutter sitzt in der Küche und schaut nervös auf die Wanduhr. Sie wartet auf den Anruf von ihrem Sohn und wimmelt den Anruf von Tante Frieda nach wenigen Minuten ab, um ja nicht den Anruf von Martin zu verpassen. Normalerweise telefonieren die beiden Frauen fast täglich miteinander, um sich gegenseitig die neuesten Klatsch- und Tratsch Geschichten aus dem Dorf zu erzählen. Doch heute hatte Martins Mutter keine Lust auf diese Art von Gesprächen. Sie schaut auf die Uhr. Es ist schon 17 Uhr. Ob Martin vielleicht eine längere Pause gemacht hat oder im Stau gestanden hat?
Um 17:30 Uhr kommt Martins Vater von der Arbeit heim und wundert sich, dass kein Abendbrot auf dem Tisch steht. Immerhin war er das die letzten 25 Jahre so gewohnt. Er fragt seine Frau, ob etwas passiert ist, doch sie konnte ihm darauf keine Antwort geben. Martin hatte sich immer noch nicht gemeldet. Hektisch deckt sie für ihren Mann den Tisch. Sie selbst hat keinen Appetit.
Als die beiden auch um 19:00 Uhr kein Lebenszeichen von Martin bekommen haben, wird auch sein Vater langsam nervös. Doch er versucht es zu überspielen und schaut die Sportschau. Martins Mutter hält es schließlich nicht mehr aus und ruft in dem Berggasthof an, an dem Martin morgen seinen ersten Arbeitstag haben wird.
Doch bei der Frage, ob ihr Sohn gut angekommen sei, wusste niemand etwas mit dem Namen anzufangen. Niemand kannte einen Martin, der diesen Winter dort als Kellner arbeiten sollte. Die Mutter legte auf und fing an zu weinen. Wo ist mein Martin?
Mehr zur Autorin
Sandra Peters ist in Deutschland bei Speyer am Rhein geboren. Zwar ist sie nicht dem Land, dafür dem Fluss treu geblieben und lebt heute mit ihrer Familie in Bad Ragaz. Ihr erlernter Beruf Kauffrau und die damit verbundene Büroarbeit war nichts für sie, weshalb sie dann bald in die Gastronomie wechselte. Ihren definitiven Traumjob hat sie jedoch erst 2013 in Angriff genommen, nämlich den der Vollzeit-Mama. Nebenbei beschäftigte sie sich wieder intensiv mit dem Hobby Fotografie und durch Qultur wurde auch ein lange vergessenes Hobby wieder geweckt, nämlich das Schreiben.