Doch heute scheint ihm der Anlass passend zu sein, sie anzulegen. Er trägt einen grauen Anzug, der ihm zwar etwas zu gross ist, aber immerhin ist er sauber und gebügelt. Das Hemd trägt er lässig offen, denn Krawatten konnte er noch nie leiden. Das schnürt ihm schon die Luft ab, wenn er nur dran denkt. Seine Sneaker unterstreichen den lässigen Look und heben ihn etwas ab, von den anderen Anzugträgern und Bänkern hier in Frankfurt am Main.

Hier im Nizza Park, direkt beim Bahnhofsviertel, fällt er niemandem auf. Er sitzt auf einer der vielen Bänke in der Platanenallee und beobachtet das Treiben um ihn herum. Er wird, je öfter er auf die Uhr schaut, zunehmend nervöser. Noch 10 Minuten, die sich für Christian heute wie Kaugummi ziehen. Er konnte die letzte Nacht kaum schlafen und heute Morgen war er sogar schon schwimmen, um sich fit und wach zu fühlen für dieses Treffen, zu dem er keinesfalls zu spät kommen wollte.

Nun sitzt er hier auf dieser Parkbank und neben ihm liegt eine Strassenzeitung. Sie soll das Erkennungszeichen sein. Noch zwei Minuten. Christian schaut sich nervös um. Da beobachtet er eine Frau, die, auf High Heels, mit Designerhandtasche und zwei Kindern an der Hand, hektisch versucht die Kids vom Spielplatz um die Ecke fern zu halten. Sie will ganz offensichtlich in Richtung Platanenallee laufen. Langsam kommt sie immer näher auf Christian zu und noch bevor sie bei seiner Bank ankommt, treffen sich ihre Blicke und beide laufen aufeinander zu und umarmen sich. Die Zeit scheint für einen kurzen Augenblick still zu stehen. Nach einer gefühlten Ewigkeit schauen sie sich tief in die Augen und bemerken das Muttermal, das bei jedem an der gleichen Stelle auf der Wange sitzt. Noch bevor einer der beiden seine Sprache wiederfindet, fragt eines der Kinder: «Mama, ist das jetzt unser neuer. grosser Bruder?»

Nach über 30 Jahren sehen sich Mutter und Sohn zum ersten Mal wieder. Hier im Nizza Park. Mitten in Frankfurt. An der Stelle, an der Christian seit fast 20 Jahren täglich den Passanten die Strassenzeitung «fiftyfifty» verkauft.