Eine einfache Frage und die knifflige Suche nach der Antwort
Bild/Illu/Video: Alice Gabathuler

Eine einfache Frage und die knifflige Suche nach der Antwort

Ich schicke jeweils eine kleine Warnung voraus, bevor ich loslege. Ich erkläre der fragenden Person, dass ich gleich die einzig ehrliche Antwort gebe, die es auf diese Frage gibt – und dass sie blöderweise nicht nur ehrlich ist, sondern auch extrem dämlich klingt, als würde ich einen Witz auf Kosten der fragenden Person machen, was nicht meine Absicht sei. Die einzig ehrliche Antwort ist nämlich: «Bis es fertig ist.»


Manchmal bricht Gelächter aus, manchmal herrscht ratloses Schweigen, aber immer steht in den Gesichtern der Anwesenden die Frage: «Geht’s vielleicht etwas genauer?»


Ich würde ja gerne genauer werden. Und deshalb versuche ich es dann. Was eine Weile dauert. Hier also die etwas genauere und deshalb ausführlichere Antwort:

Irgendwann setzt sich eine Idee in meinen Kopf. Vielleicht, weil ich etwas in den Nachrichten gesehen oder gelesen habe. Vielleicht, weil ich gerade einen tolles Lied höre und mir die Stimmung des Songs gefällt, oder eine Songzeile mich triggert. Vielleicht, weil mir in der Bahn jemand gegenübersitzt, für den mir gleich ein ganzes Leben einfällt. Vielleicht, weil ich Jugendliche bei einem Hobby beobachte. Vielleicht, weil jemand etwa erzählt, das … (Womit auch gleich eine weitere Frage geklärt ist, die oft bei Lesungen gestellt wird: «Woher nehmen Sie Ihre Ideen?»)


Am Anfang braucht die Idee nicht viel Platz. Manchmal merke ich erst gar nicht, dass sich so ein klitzekleiner Gedanke bei mir in den Kopf gesetzt hat. Es gibt Ideen, die machen sich gleich wieder vom Acker, andere bleiben eine Weile und entscheiden dann, dass mein Kopf der falsche Ort für sie ist. Oder ich schicke die Idee weg, weil ich finde, dass sie anderswo besser aufgehoben ist.


Und dann gibt es die Ideen, die bleiben und wachsen, weil sie bei mir richtig sind. Ich gebe ihnen Raum und Zeit zum Keimen, wie bei einem Samen, den man säht. Das kann Wochen dauern, meistens Monate und manchmal Jahre. Bis der Augenblick kommt, in dem ich weiss: Die Zeit für den nächsten Schritt ist reif. (Teil von Aydens Biographie aus dem Buch «Red Rage» ist über 30 Jahre alt und hat die ganze Zeit in mir gewohnt.)


Mit der Idee sind Figuren gewachsen, manchmal schon eine Ausgangslage für eine Geschichte, vielleicht auch einzelne Bruchstücke der Handlung. Auf jeden Fall so viel, dass ich mir ein zur Geschichte passendes Notizbuch kaufe und fleissig Notizen mache. Gleichzeitig vertiefe ich mich in erste Recherchen.


Und ich stelle mir die Frage: Welche meiner Figuren erzählt die Geschichte? Oder erzählen mehrere und wenn ja, wer? Entscheide ich mich für eine (oder mehrere) Ich-Perspektive(n) oder wähle ich die dritte Person Einzahl, also eine Er/Sie Erzählerin? An dieser Frage kann ich schon mal ein paar Wochen hängen bleiben, einmal sind es sogar Monate gewesen.


Diese Prozesse, bis die Zeit reif ist zum Schreiben, können also ziemlich lange bis endlos lange dauern. In meinen Lesungen stelle ich dann die Frage: Zählt das auch zum Schreibprozess, und wenn ja, wie zähle ich dieses Stunden des Wachsen- und Reifenlassens? Der Recherche? Dem Entwickeln der Figuren und der Geschichte? Denn: Geschrieben habe ich ja noch nichts, aber ohne diese Prozesse könnte ich meine Bücher nicht schreiben.


Wenn ich dann schreibe, schreibe ich nicht jeden Tag meine drei, fünf oder acht Stunden, sondern so ziemlich alles zwischen null und zehn Stunden. Manchmal schreibe ich an drei Tagen die Woche, manchmal an sieben, manchmal an keinem. Ich habe keine Stempeluhr und weiss deshalb schlicht nicht, wie viel Schreibzeit ich ganz konkret aufgewendet habe.


Um die Sache noch komplizierter zu machen: Das Schreiben ist ja nur ein Teil. Ich überarbeite immer wieder. Bevor ich weiterschreibe, während ich schreibe, nachdem ich geschrieben habe. Wie zähle ich das jetzt noch dazu?


Leider – oder zum Glück – ist die Arbeit immer noch nicht abgeschlossen, wenn ich mit dem Schreiben und Überarbeiten fertig bin, denn der Text geht ins Lektorat, wo ihn eine aufmerksame Lektorin oder ein aufmerksamer Lektor noch einmal auf Herz und Nieren prüft – und dann kommt der Text zu mir zurück, mit Anmerkungen und Kommentaren und ich stürze mich erneut in die Arbeit.


Ganz am Ende, wenn alle Änderungen gemacht sind, geht der Text in den Satz, das heisst, er wird für den Druck vorbereitet. Vor dem Druck kommt er noch einmal zu mir – die letzte Chance, Fehler zu finden. Wenn Sie jetzt denken, spätestens an diesem Punkt würde Ihnen die eigene Geschichte zum Hals raushängen: Ja, das tut sie mir an diesem Punkt auch. Trotzdem ziehe ich das Ding professionell bis zum Ende durch und prüfe meinen Text zum gefühlten zillionsten Mal. Danach bin ich dann durch. Buchstäblich.


Sie sehen: Die einzig ehrliche Antwort auf die Frage «Wie lange schreiben Sie an einem Buch?» ist wirklich: «Bis es fertig ist.» (Na ja, ungefähr gleich ehrlich und gleich dämlich wäre wahrscheinlich: «Ich weiss es nicht.»)


Weil ich weiss, dass mein Publikum und Sie es gerne ein wenig genauer hätten: Vom Moment, in dem ich mit dem Schreiben der Geschichte anfange (also nicht von der ersten Idee an) brauche ich für ein Buch ungefähr neun Monate, also ungefähr so lange wie für eine Schwangerschaft.


PS: Wenn Sie das nächste Mal an eine Lesung gehen, stellen Sie diese eine Frage nicht. Es sei denn, Sie sind entweder auf eine kurze Lüge, eine dämliche ehrliche Antwort oder auf eine ausufernde Erklärung vorbereitet.

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