Die verkannte Kunstform
Wer ein amerikanisches Magazin liest, wird immer wieder auf etwas stossen, das bei uns selten bis unvorstellbar ist: Kurzgeschichten aus der Feder grosser Autoren. Man mag nun denken: Warum nur lassen sich Ikonen wie Stephen King dazu herab, Geschichten zu schreiben, die auf zwei oder drei Magazinseiten Platz haben, wo sie doch mit ihren Tausendseitern ein Millionenpublikum erreichen?
Leider unterschätzt
Ganz einfach. Die Amerikaner - wie auch die Briten übrigens - wissen, dass Länge nicht alles ist. Eine gute Geschichte mit endlosen Beschreibungen von Personen, Örtlichkeiten oder Gefühlszuständen aufblähen ist unterm Strich einfacher, als eine Story auf wenigen Seiten überzeugend zu schreiben. Kurzgeschichten sind zu Unrecht völlig unterschätzt bei uns. Es gibt viele Verlage, die schon auf ihrer Webseite abwehren: «Bitte keine short storys». Als wenn die ansteckend wären.
Dabei liegt endlos viel Potenzial in den Miniaturen. Der US-Autor Philipp K. Dick hat stolze 43 Romane geschrieben - aber «nebenbei» auch 118 Kurzgeschichten. Und aus letzteren wurde nicht selten mehr. «Minority Report» aus dem Jahr 1956 wurde 2002 mit Tom Cruise in der Hauptrolle verfilmt. Channel 4 hat unter dem Titel «Electric Dreams» eine TV-Staffel realisiert (die an «Black Mirror» auf Netflix erinnert), die auf den Geschichten von Philipp K. Dick basiert. Natürlich hätte der 1982 verstorbene Autor aus den meisten seiner «Shorts» auch einen Roman schreiben können, aber das wäre auf Kosten der Produktivität gegangen. Der Tag hat nur 24 Stunden. Und es ist gerade die Qualität seiner Kurzgeschichten, dass jede von ihnen mit einer einzigartigen Idee unterlegt ist, die in Spielfilmlänge realisiert werden kann.
Eine eigene Kunstform
Auch Grossmeister Stephen King hat Kurzgeschichten geschrieben und sie in Sammelbändern veröffentlicht. Sie geniessen aber vor allem bei seinen Fans Bekanntheit, Aussenstehende kennen oft nur seine epischen Werke wie «It», «The last stand» oder «Shining». Dabei gilt auch hier: King war nicht etwa zu faul, um aus einer Idee einen ganzen Roman zu schreiben, er hat nur die Kurzgeschichte als eigene Kunstform erkannt und gezielt ausgewählt, was er zu einem Roman verarbeitet - und was sich für die kurze Form eignet.
Natürlich sind auch unsere Autoren nicht ganz unschuldig daran, dass es so wenig wirklich gutes Kurzfutter gibt. Wer eine gute Idee zu haben glaubt, will sich damit auch verwirklichen, am liebsten in Form eines satten Wälzers. Es scheint vielen eine Vergeudung ihres Talents, einen faszinierenden Plot auf 20 statt auf 200 Seiten zu erzählen. Dabei geht es ja nur darum, den Leser zu fesseln, ob dieser Zustand nun zwei Stunden oder zwei Wochen anhalten mag. Die besten Geschichten sind die, bei denen man nach der Lektüre findet: Das hätte noch ewig so weitergehen können. Das ist längst nicht bei jedem Roman der Fall. Aber bei so mancher Kurzgeschichte.