«Das Ende der Welt»
Es war nichts zu hören, überhaupt nichts.
Jenny stand am Eingang des Bunkers. Die letzten Tage hatte es nur geknallt und die Schreie der Menschen, die keinen sicheren Platz fanden, schienen kein Ende zu nehmen.
Es waren die letzten Tage gekommen. Nicht mal ein Vogel schien zu zwitschern. Sie machte sich auf den Rückweg in die Tiefe des Bunkers. Dort schlief ihre Familie. Die beiden Kinder kuschelten ganz eng an Kurt. Kurt war stark und er liebte sie alle drei. Vor zwei Monaten hatte er sich auf den Weg nach Hause gemacht. Fast drei Wochen hatte er sich irgendwie durchgeschlagen. Als er vor der Tür stand wusste sie, es gibt keine Chance mehr. Die Erde wird wohl nicht mehr bewohnbar sein. Sie hatten sich aneinandergeklammert und Ausschau nach einem sicheren Platz gehalten. Der Bunker war nach dem zweiten Weltkrieg verschüttet worden. Durch ihre Arbeit im Archäologischen Institut, war sie auf die Pläne aufmerksam geworden. Mit drei Familien räumten sie den Eingang unauffällig frei und schafften Vorräte hinein. Alles im Geheimen. Einer passte auf die Kinder auf und die beiden anderen Paare arbeiteten.
Es war schon seit Jahren kein geregeltes Leben mehr. Nur wenige Menschen hatten noch eine bezahlte Arbeit. Alle schauten, dass sie irgendwie durchkamen.
Im Hintergrund wurde Nadja wach. Vorsichtig schälte sie sich aus den Decken und den Armen und Beinen ihrer Familie. Ein kurzes Nicken und die Frauen schlichen sich zum Eingang des Bunkers.
«Ist es schon Zeit, dass ich die Wache übernehme?» fragte Nadja. «Nadja, ich glaube es ist vorbei. Ich höre nichts mehr, kein Vogel zwitschert, kein Hund bellt und Menschen höre ich auch nicht! Es ist irgendwie unheimlich da draussen.» Jenny war aufgewühlt in ihrer Angst vor dem, was jetzt folgen würde. Die Frauen lauschten. Noch immer war nichts zu hören. Kein Windzug, nicht einmal das Rauschen von Blättern. «Soll einer von uns schauen, was da los ist?» flüstere Nadja «Wir müssen doch wissen, ob noch was zu retten ist!» «Nein, wir bleiben wo wir sind. Nachher werden wir alle gemeinsam überlegen, was wir als nächstes tun. Wer weiss, welche Chemikalien wir uns in den Bunker tragen. Noch haben wir alles für die nächsten beiden Wochen und wenn wir ganz sparsam sind, reicht es auch für drei Wochen.» Jenny hatte schon genug von Kurt gehört, welche Mittel angewandt wurden, um sich die Vorräte anderer anzueignen. Da musste alles genau überlegt sein.
Da sassen sie nun zusammen. Kurt, Jenny und die beiden vierjährigen Kim und Lilly, Nadja mit Ihrem Mann Rudi und der dreijährigen Finnja, sowie Lisa und Vito mit dem zehnjährigen Timo.
«Wenn wir jetzt rausgehen, dann kann es passieren, dass wir den Heimlichen begegnen. Diese Menschen haben vorher schon im Abseits leben müssen und sich alle Möglichkeiten des Überlebens angeeignet. Sie leben in Gruppen und sind mit allen Wassern gewaschen. Wenn sie uns beobachtet hätten, dann wären die schon hier im Bunker. Eventuell. haben wir wirklich ein wenig Glück und in zwei Wochen haben die ein neues Territorium gefunden. Es gibt nirgends mehr viel zu holen.» Kurt machte eine kleine Pause. «Ja, lasset uns noch eine Woche warten, wir sehen ja, wann die Sonne aufgeht!» Vito hatte auch schon einiges erlebt. Er war aus einem anderen Bereich zu seiner Familie aufgebrochen. Es war schon ein Wunder, dass sie alle zusammen hier sassen. Die wenigsten Menschen konnten überhaupt irgendwo unterkommen. Überall waren Überfälle und Zerstörung. Ein Glück, wenn man in dieser Zeit überhaupt von Glück reden konnte, dass ihre Familien alle noch vollständig waren.
Jeden Morgen lauschte die Wache, ob es irgendwelche Geräusche gab. Es war weder tagsüber noch nachts etwas zu hören. Sie kontrolliert den Eingang so gut dieser von innen einsehbar war. Sie lebten in einer Welt ohne Geräusche. Nur die eigenen Bewegungen und das miteinander sprechen klang normal. Am siebten Tag machten sich Kurt und Lisa auf den Weg nach draussen. Sie hatten lange überlegt, wie sie es für alle am sichersten regeln konnten. Kurt brachte neben Vita die meiste Erfahrung mit. Er hatte schon Begegnungen mit den Heimlichen überstanden. Es war auf jeden Fall sinnvoll zwei Männer bei der Gruppe zu lassen, denn wenn den Spähern was passierte, dann waren die Chancen einfach besser. Lisa hatte sich angeboten mitzukommen, erstens war Timo mit seinen zehn Jahren das älteste Kind, es verstand, dass es ums reine Überleben ging. Und Lisa konnte als Karate-Lehrerin in möglichen Situationen schnell reagieren.
Der Abschied fiel allen schwer. Timo mochte seine Mutter gar nicht gehen lassen und auch die Zwillinge und Jenny hingen an Kurt. Aber die beiden mussten die Dämmerung nutzen.
Nach vier Stunden waren Kurt und Lisa wieder im Bunker. «Nichts, gar nichts bewegt sich draussen, alles wirkt wie ausgestorben. Wir haben viele Tote gesehen. Einige waren verletzt, die meisten schienen einfach eingeschlafen zu sein. Wir haben ja die Messgeräte mitgenommen. Die Luft und auch der Boden weisen keine bekannten Chemikalien auf. Wir wissen nicht was wirklich passiert ist, aber ich sehe auch keine Richtung in der wir uns bewegen können. Es fehlt einfach ein Ziel. Wir sind auch in die Häuser gegangen. Alles sah wie immer aus. Nur völlig leblos.» Kurt nickte zustimmend zu Lisas Bericht. Die beiden hatten einige brauchbare Dinge aus den Häusern mitgebracht und auch vom vorher angelegten Vorrat. Noch für vier Wochen würde alles reichen - und dann. Die Erwachsenen sahen keine Zukunft mehr. In den Gärten schien nichts zu wachsen -sie hatten Radieschensamen und Kresse an bestimmten Stellen gesät, dort hatte sich innerhalb ihrer Zeit im Bunker nichts verändert. Das Gesäte war weder gewachsen, noch vertrocknet. Sie beschlossen in zwei Tagen nochmal einen Spähtrupp auszusenden und sich dann auf den Weg ins nirgendwo zu begeben. Eventuell gab es ja doch noch weitere Überlebende.
Jenny wachte auf, heute würden sie losziehen, der Gedanke behagte ihr nicht. Allmählich nahm sie ihre Umgebung wahr. Wo waren die Kinder? Sie lag ja in ihrem Bett. Und Kurt schnarchte leise vor sich hin. Vorsichtig macht sie sich auf den Weg ins Kinderzimmer. Kim und Lilly lagen im Babybett. Sie sahen so klein aus. Jenny schlich sich aus dem Kinderzimmer. Was hatte dieser Traum zu bedeuten. Sie öffnet die Haustür und genoss das Zwitschern der Vögel. Vito fuhr mit seinem Rad zur Arbeit und winkte ihr zu. «Vito, kommt ihr heute Abend zu uns, ich rufe nachher auch noch Nadja an. Ich glaube, da gibt es einiges zu besprechen!» Vito nickte.
Jenny hatte Kurt nur wenige Details ihres Traumes verraten. Sie hatte noch bevor er aufgestanden war alles aufgeschrieben. Nun sassen sie alle zusammen. Jenny schaute ihre Freunde an. Sie kannten sich schon aus der Schulzeit, nur Vito und Kurt waren erst später dazu gestossen. Sie schaute Nadja an. «Nadja, bist du schwanger.» Nadja zuckte zusammen. «Woher weißt du das, ich weiß es ja selbst erst eine Woche.» Sie schaute ihren Mann erstaunt an: «Wir wollten doch nichts sagen, Vito!» «Ich habe niemanden davon erzählt. Nach den drei Fehlgeburten solltest du doch nur Ruhe haben!» «Bevor ihr irgendetwas falsch versteht, niemand hat es mir verraten. Ich sah eure Finnja im Traum.» «Ein Mädchen, woher weißt du den Namen, den wir einem Mädchen geben wollen?» Vito und Nadja sprachen wie aus einem Mund. Dann begann Nadja an zu Lächeln. «Ein Mädchen, die Fehlgeburten waren alle Jungen. Aber erzähle uns deinen Traum. Er muss ja schön gewesen sei. Wenn mein Kind überlebt hat.» Jenny schüttelte den Kopf. Sie erzählte ihren Traum und die Freunde erschraken.
Gemeinsam beobachteten sie in den nächsten Wochen die weltweiten Entwicklungen. Ihnen wurde immer bewusster, dass vieles in Bewegung war, es gab aktive Menschen, die zum Umdenken bereit waren. Gleichzeitig gab er Gegenaktivitäten, die ihren eigenen Reichtum beschützen wollten. Und viele sagten nur: «Da kann ich sowieso nichts machen.»
Die Freunde vernetzten sich mit verschiedenen anderen Aktiven, die zum Umdenken und zum Handeln bereit wäre. Innerhalb eines halben Jahres gehörten sie zu einem weltweiten Netz. Es wurden die verschiedenen Gesichtspunkte für Veränderungen und Ziele für die Zukunft in Form gebracht, so dass es für jeden verständlich wurde.
Jenny hatte ihre Stelle im archäologischen Institut wieder aufgenommen und die Bunkerpläne gefunden. Finnja hatte das Licht der Welt erblickt. Kurt konzentrierte sich mit anderen um die Missstände in der jeweils eigenen Umgebung. Die Menschen am Rande der Gesellschaft wurden in das weltweite Netz integriert, denn von Menschen, die nichts mehr zu verlieren hatten, ging die grösste Gefahr aus. Es bauten sich überall kleine Gemeinschaften auf. Jenny konnte mit ihren Hintergrundinformationen auf viele Missstände aufmerksam machen. Durch den Traum hatte sie das Wissen um die verschiedenen Entwicklungen, es war wie ein Blick in die Zukunft gewesen. Doch die Zukunft war um einiges schöner.
Am fünften Geburtstag ihrer Zwillinge atmete sie einmal tief durch. «Wisst ihr, als ich vor viereinhalb Jahren aufwachte, da gab es keine Zukunft mehr. Leute, wir haben geschafft das Leben neu zu gestalten. Danke, dass ihr an meinen Traum geglaubt habt.» Kurt nahm seine Frau in den Arm. «Es ist gut, dass du geträumt hast.» Und alle klatschten.