Selbsternannt. Basta! Punkt!!!
Nun, das mag sein. Ich nenne mich auch Autorin. Und ich
vermute, dass Lukas Bärfuss sich ebenfalls als Autor oder Schriftsteller
bezeichnet. Wie sollte er sich denn sonst bezeichnen? Als Maurer? Nasen-Ohren
Spezialist? Pilot? Tiefseetaucher? Mit «selbsternannt» hat das nichts zu tun.
Es ist schlicht so. Lukas Bärfuss hat einen Beruf, mit dem er sein Einkommen
verdient. Das Schreiben. Und ich wage mal zu behaupten, er arbeitet verdammt
hart dafür, genau wie andere Berufsleute auch. Das «selbsternannt» im Kommentar
spricht ihm jedoch ab, ein Schriftsteller zu sein, es deutet an, dass nur er
das so sieht, macht ihn klein, als ob er diesen Berufstitel unverdient an sich
gerissen hätte.
Das passiert nicht nur Lukas Bärfuss. Das passiert vielen Kulturschaffenden; das passiert ausgebildeten und bestens qualifizierten Berufsleuten, das passiert Experten, die jahrelang auf einem Gebiet forschen. Vor allem, wenn sie anders denken als die Person, die sich über sie nervt. In den letzten Jahren hat dieses Phänomen zugenommen. Was früher am Stammtisch gebrüllt und mit einem Faustschlag auf den Tisch unterstrichen wurde, findet sich heute zuhauf in den Kommentarspalten der Online-Plattformen. Vor ein paar Jahren wurde das Wort intellektuell zwischen Anführungs- und Schlusszeichen gesetzt, womit man signalisierte, was man davon hielt, wenn jemand sich anmasste, differenziert zu denken. Seit Corona sind es die «Gschtudierten», die sich in Satzzeichen wiederfinden, vor allem Menschen aus der Wissenschaft, denen jegliches Fachwissen abgesprochen wird. Oder Politiker, die in schwierigen Situationen entscheiden müssen. Über sie werden Witze gerissen oder sie bekommen Drohungen, oft weit unter der Gürtellinie und jenseits alles Erträglichen. Der kleine Wutbürger schwingt die grosse Wortkeule und dabei genügt ihm sein gesunder Menschenverstand. Keinen Moment lang denkt der mit Wörtern um sich werfende Wüterich, dass seine Definition des gesunden Menschenverstandes subjektiv ist. Und dass es halt oft schon etwas mehr braucht, als ein Bauchgefühl und eine grosse Klappe.
Ein Beispiel: Stellen wir uns vor, der Pilot und Co-Pilot des Flugzeugs, in dem wir sitzen, fallen beide mit verdorbenem Magen aus. Über Lautsprecher fragt die Crew, ob sich ein Pilot an Bord befinde. Mindestens 76 Leute melden sich, denn hey, fürs Fliegen braucht’s keine Ausbildung, es reichen ein paar Katastrophenfilme über ausser Kontrolle geratene Flugzeuge. Ach ja, und der gesunde Menschenverstand. Für etwas hat man den ja, nicht wahr? Nun, ich möchte nicht in diesem Flugzeug sitzen, wenn einer dieser 76 Besserwisser seine Worte in Taten umsetzt.
Was das mit Jugendlichen zu tun hat? Wenn sie von erwachsenen Rumschreiern eingebläut bekommen, dass Bildung nichts mehr wert ist und alle sowieso alles besser wissen und können, brauchen sie doch gar keine Lehre mehr zu machen. Müssen kein Gymnasium und keine Kantonsschule besuchen, Studieren ist eh sinnlos. Wenn sie Pech haben, machen sie eine Lehre mit Berufsmatura, bilden sich an einer Hochschule weiter, studieren Biologie und gehen in die Forschung. Und dann? Kommt so ein Hampel und nennt sie einen «selbsternannten Virologen», der sich im Keller einschliessen und die Klappe halten soll. Ey bro, da wirst du besser Influencer auf Insta. Oder YouTuber oder so.
Und wozu Jugendliteratur? Bücher lesen? Ist uncool. Könnte man glatt Einblicke in andere Welten und die Herzen anderer Menschen bekommen und die dann auch noch verstehen, ey. Sowieso, da wirst du von selbsternannten Schriftstellern manipuliert, diesen linken Socken mit ihrem Genderzeugs.
Na, habe ich Sie so richtig genervt? Falls ja: Das war Absicht. Weil ich möchte, dass wir uns alle überlegen, wie wir mit anderen Menschen reden und umgehen. Was wir mit Worten anrichten können. Manche Erwachsene geben mittlerweile klägliche Vorbilder ab. Sie leben den Jugendlichen Respektlosigkeit vor. Reden und Brüllen klein, was ihnen nicht passt. Packen Häme und Gemeinheit aus und schütten sie über andere. Entweder laut und pöbelhaft – oder etwas subtiler, indem sie Menschen mit verächtlichen Begriffen und Bezeichnungen eindecken. Können müssen sie dafür nichts, denn sie haben ja ihren gesunden Menschenverstand, der für manche Schulbildung, Ausbildung und ein Studium ersetzt. Nur was sie denken und leben ist gut. Meistens wird das noch mit einem energischen «Basta!!!» oder «Punkt!!!» unterstrichen.
Ich mag mir nicht vorstellen, wie es ist, als Jugendlicher in einem solchen Elternhaus aufzuwachsen, wo der Hass auf Andersdenkende beim Mittagessen über den Tisch gegeifert und gespuckt wird. Ich tue es trotzdem. Und schreibe Jugendbücher darüber. Weil ich es verstehen will, weil ich es ändern will, weil ich finde, dass Jugendliche gute Vorbilder brauchen, damit sie ihren Weg finden können. Hass und Kleinmacherei ist keine Antwort auf die Fragen unserer Zeit. Kritisches Denken schon, aber bitte nicht jenseits aller Fakten allein auf der Basis des gesunden Menschenverstands.
PS: Während ich diese Kolumne schreibe, schickt mir eine Freundin einen Link auf eine Story eines Buchladens. Was da jemand auf das Schaufenster geschrieben hat, ist nur möglich in einer Welt, in der einige von uns Menschlichkeit, Mitgefühl, Anstand und den Respekt vor dem Anderen und Andersdenkenden verloren haben und sämtliche Hemmungen fallen lassen. Da hat jemand seinen Worten Taten folgen lassen. Vorbild sein für unsere Jugendlichen geht anders.