Melanies stille Geschichte
Mit offenem Mund und ganz grossen Augen sieht mein neugeborener Sohn Melanie an. Während sie ihn auf dem Arm schaukelt und ich in dieser Zeit eine Tasse heissen Kaffee trinke, erzählt sie mir ihre Stillgeschichte. Besser gesagt, ihre beiden Stillgeschichten. Denn sie hat zwei ganz unterschiedliche erlebt.
«Bei meiner Tochter vor sieben Jahre war ich unwissend und definitiv falsch beraten», sagt die 32-Jährige. Sie hatte nicht einmal eine Wochenbett-Hebamme. Melanie zuckt mit den Achseln: «Ich dachte, das brauche ich nicht.» Vom Stillen bekam sie rissige Brustwarzen und einen Milchstau.
Mit einer Brustentzündung und 40 Grad Fieber musste sie schliesslich Hilfe in Anspruch nehmen. Im Spital wurde ihr geraten, nur noch zu pumpen. Das tat sie dann auch, damit ihre Tochter wenigstens in den ersten drei Monaten ihre Muttermilch bekam. Dann wechselte sie zu Pulvermilch. «Ich hätte sooo gerne gestillt. Habe schlussendlich aber den Frieden mit dem Fläschchen gefunden.»
Ganz anders lief es 2.5 Jahre später bei Melanies Sohn. «Er war aber auch ein ganz anderes Baby als unser Mädchen», erklärt Melanie, «Sie war eher trinkfaul, er genau das Gegenteil.» Melanie hatte dieses Mal auch eine Wochenbetthebamme organisiert und war allgemein besser informiert. Sie wusste, dass sie trotz rissiger Brustwarzen weiterstillen konnte. Mit einer sogenannten Laser-Therapie bekam sie ihre wunden Brustwarzen dieses Mal schnell in den Griff. Es handelt sich dabei um eine schmerzfreie Behandlung, bei der mit Licht der Stoffwechsel angeregt und der Heilungsprozess beschleunigt werden.
Das erste Stilljahr sei wie im Flug vergangen, erzählt Melanie. Sie schmunzelt: «Mama, Busen, Couch!», das sei einer seiner ersten Satzbildungen gewesen. Auch wenn er schon gut vom Tisch mitgegessen habe, seine «Busenmilch» blieb sein Lieblings-«essen». «Wenn er bei den Grosseltern geschlafen hat, bat er mich, am Morgen zum Stillen zu kommen.» Melanies Augen leuchten beim Erzählen. «Wenn mein Sohn stillte, war er das glücklichste Menschlein auf der Welt, so zufrieden, so geerdet.» Stillen sei so viel mehr als Nahrung. «Es sei Nähe, Wärme und Vertrauen. – eine innige Beziehung, von der auch ich als Mama profitiert habe!»
Langsam wird mein Baby in Melanies Armen nervös, es bewegt sein Köpfchen hin und her, nimmt sein Fäustchen in den Mund - Es hat offensichtlich Hunger und sucht meine Brust. Melanie gibt mir den Kleinen zurück. Während ich ihn stille, trinkt sie ihren Eiskaffee. Sie erinnert sich daran, dass sie sich bei ihrer Tochter geniert hat, in der Öffentlichkeit zu stillen. Erst bei ihrem Sohn habe ein Umdenken stattgefunden. «Diesen stillte ich nach seinem Bedarf, dort wo ich eben gerade war - (lacht) einmal unter tausenden Menschen in einem Kindervergnügungspark!»
Mein Kleiner ist in der Zwischenzeit beim Stillen eingeschlafen. Ein Milchschnäuzchen ziert seine süsse Babyschnute. Während er im sogenannten Milchkoma liegt, reden ich und Melanie weiter. «Hast du nie eine negative Reaktion erhalten, weil du deinen Sohn über das Babyalter hinaus gestillt hast?», will ich wissen. Sie verneint. «Mein Mann musste sich vielleicht den einen oder anderen dummen Spruch anhören (lacht). Aber er stand und steht immer hinter mir und unserer bedürfnisorientierter Erziehung. Ich persönlich wurde einfach immer wieder gefragt, ob ich denn noch Milch habe oder wie lange ich denn noch stillen wollte!» «Und wie lange wolltest Du?» «Eigentlich war mein Plan, dass mein Sohn sich selbst abstillt. Dieser ging aber nicht auf.»
Nach drei Jahren versuchte Melanie das erste Mal abzustillen. Sie erklärt: «Mein Sohn war mittlerweile ein grosser Junge und ass alles. Trotzdem wollte er phasenweise wieder ständig an die Brust. Diese Entwicklung gefiel mir nicht.» Sie merkte aber schnell, wie sehr ihr Sohn noch an seiner «Busenmilch» hing und stillte weiter. Acht Monate später zog Melanie schliesslich einen Schlussstrich. «Ich habe es mir so sehr gewünscht, dass er sich selber abstillt, aber zu einer Stillbeziehung gehören nun Mal zwei dazu - und für mich hat es einfach nicht mehr gestimmt.» Als Alternative durfte ihr fast 4-Jähriger ihre Brust einfach noch halten. Ausserdem bekam er für jeden Tag ohne Stillen einen Sticker und durfte sich schliesslich ein Spielzeug aussuchen. «So haben wir innerhalb von sieben Tagen ohne Tränen abgestillt», so Melanie - mit einem lachenden und einem weinenden Auge.
Melanie würde es immer wieder so machen wie bei ihrem Sohn, wie sie zu mir sagt: «Das Langzeitstillen - beziehungsweise eigentlich Normalzeitstillen - war wunderschön.» Melanie würde sich wünschen, dass alle Frauen richtig übers Stillen informiert würden. Denn das sei eine Voraussetzung für eine erfolgreiche Stillbeziehung. Da aber genau bei diesem Thema oft unterschiedliche Meiningen vorherrschen, sei es im Spital, beim Kinderarzt oder der Mütterberatung, sei es wichtig, dass «frau» sich selbst informiert und gegebenenfalls eine professionelle Stillberaterin zur Seite zieht.
Richtig informiert könne dann jede Frau selbst entscheiden, ob sie stillen möchte oder nicht. «Ich möchte zum Schluss auch betonen, dass ich zu meiner Tochter, die das Fläschchen erhalten hat, eine genau so innige Beziehung habe wie zu meinem Sohn, den ich fast vier Jahre gestillt habe!»
Zum Schluss noch ein paar Fakten zum Stillen:
Beim Stillen benötigt es weder einen Rhythmus noch einen Mindestabstand.
Das Baby kann nach Bedarf gestillt werden. Dieser hängt von verschiedenen Faktoren ab wie zum Beispiel Alter, Gesundheitszustand und Tagesprogramm. Stillen ist nicht nur Nahrung, sondern «stillt» auch die Bedürfnisse von Nähe, Geborgenheit und Ruhe.
Eine Mutter kann weiterstillen, auch wenn sie oder ihr Kind krank sind.
Es gibt stillverträgliche Medikamente. Diese sind unter hier aufgelistet. Muttermilch ist gut verträglich und sichert die Flüssigkeitszufuhr des kranken Kindes. Zudem liefert sie wichtige Abwehrstoffe und stillt - wie bereits erwähnt - in dieser Zeit auch das vermehrte Bedürfnis nach Nähe.
Es ist normal, wenn das Baby in den Abendstunden vermehr gestillt werden möchte.
Das heisst nicht, dass «frau» nicht mehr genügend Milch hat. Es handelt sich dabei um sogenanntes Clusterfeeding. Dabei tankt das Kind nicht nur Milch für die Nacht, sondern regt vor allem die Milchbildung für den nächsten Tag an. Ausserdem hilft das abendliche Stillen dem Kind, seinen Tag zu verarbeiten.
Die Muttermilch ist auch nach sechs Monaten noch nahrhaft.
Das Kind bekommt mit der Muttermilch immer genau die Nährstoffe, die es in der aktuellen Entwicklungsphase benötigt. Dabei bestimmt die Nachfrage das Angebot. Je öfters «frau» stillt, desto mehr Milch wird gebildet. Die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt die ersten sechs Monate ausschliesslich zu stillen und anschliessend neben geeigneter Beikost bis zum 2. Geburtstag und darüber hinaus weiter zu stillen.
Eine stillende Mutter muss auf keine Lebensmittel verzichten.
Sie kann alles essen, worauf sie Lust hat. Nur wenn sie vermutet, dass das Baby auf ein Lebensmittel reagiert, kann sie dieses probehalber ein bis zwei Wochen weglassen und beobachten, was passiert.
Das natürliche Abstillalter liegt zwischen zweieinhalb und 7 Jahren.
In der Realität stillen sich in der Schweiz aber die wenigsten Kinder selbst ab. Die Mütter beenden die Stillbeziehung meistens vorher. Sie stillen im Durchschnitt sieben Monate. Das zeigt eine SWIFS- Studie von 2014. Die Swiss Infant Feeding Study SWIFS ist eine nationale Studie zu Stillen, Säuglingsernährung und Gesundheit von Mutter und Kind. Diese Studie wird alle zehn Jahre durchgeführt.
Quelle: La Leche League. Das ist eine konfessionell, wirtschaftlich und politisch unabhängige Non-Profit-Organisation. In der Schweiz als Verein organisiert fördert sie seit fast 45 Jahren das Stillen.