Immer der Nase nach
Mein guter Freund Salomon, der bereits auf die dreissig
zusteuert und den ich aus meiner Militärzeit kenne, lehrte mich eines: Wenn du
nicht mehr weiterweisst im Leben, geh immer der Nase nach. Egal was geschieht,
deine Nase bleibt dir erhalten und weist dir den Weg gen vorne, weiter hinein
ins gute und glückliche Sein. Vorhang auf!
Im Dezember des letzten Jahres hatte ich den Entschluss gefasst mit dem Velo von Untervaz im Churer Rheintal aus nach Tarifa am Atlantik in Südspanien zu fahren. Es war ein Entschluss, der über einige Wochen hinweg gereift war und sich schliesslich in folgendem Plan manifestierte: Ich wollte innert zweier Monate zweitausendfünfhundert Kilometer Strasse mit dem Fahrrad erfahren. Hinzu kamen noch einige Tausend Höhenmeter. Im Winter. Irgendwann zur Mitte des Dezembers hin war ich abfahrbereit und winkte den Hinterbliebenen ein letztes Mal vom Sattel aus und blickte dann gen vorne in eine ungewisse Zukunft. So fuhr ich von Untervaz aus am Walensee entlang nach Rapperswil, wo ich auf einem Rastplatz zwischen Zuggleis und See mein Zelt für die Nacht aufschlug. Ein Grieche in mittleren Jahren und einem Leuchten in den Augen hielt auf seinem Spaziergang inne und wir kamen ins Gespräch. Mir war als sähe ich eine neue Welt. Der Grieche, der als Koch in Davos und in noblen Zürcher Restaurants Menus zubereitete, sagte folgendes was mich tief in meinem Inneren berührte: «Das Leben in der Schweiz ist schön und gut und sehr sicher. Die Arbeit ist sicher, die Wirtschaft nicht am Boden wie bei mir zuhause in Griechenland. Doch eines fehlt den Schweizern.» Für die Leserschaft merke ich an, dass es Dezember 2021 war, eine Zeit als die rechtswidrigen Massnahmen und Einschränkungen unseres heissgeliebten Bundesrats noch galten. «Den Schweizern fehlt», fuhr der Grieche fort, «der Sinn zum Ungehorsam gegen eine korrupte Landesführung. In Griechenland ist die Regierung und was sonst noch zur Landesführung zählt zum Teil käuflich und die Bevölkerung weiss dies. Doch hier in der reichen Schweiz, sei den Leuten nicht bewusst, dass auch ihre eigene Regierung allem Anschein nach zum Trotz auch käuflich sein könnte und zum Teil sicherlich auch ist.» Wir sprachen noch über dieses und jenes und irgendwann ging der Grieche weiter seines Weges und ich kochte mir an meinem ersten Abend der Veloreise etwas was der Grieche sicher besser gekocht hätte.
Es war eine erste Begegnung auf dieser Reise mit einem Menschen, der in einem anderen Bewusstsein lebt. Ich weiss noch, wie glücklich ich war nicht ohne Gespräch zu einem unbekannten Menschen den ersten Tag der Radreise gen Süden an die Wärme abschliessen zu können. Es gab mir das Gefühl auf meinem Weg in die Ferne angekommen zu sein und erfüllte mich mit einer stillen Zufriedenheit. Als ich am nächsten Morgen meine Reise fortsetzte, hatte sich dieses Gefühl in mir gefestigt. Mir war klar geworden, dass es nicht Landschaften waren, die das Leben ausmachten. In erster Linie waren es die Begegnungen mit den Menschen dieser Welt, die uns den Glanz von Wald und Wiese, Wellen und Wind offenbarten. Mein weiterer Weg der Radreise führte mich über die Stadt Zürich, nach Baden bis zum Kernkraftwerk in Niedergösgen.
In einem Wald ganz in der Nähe des Kernkraftwerks baute ich mein Zelt auf. Mir war unwohl in einer Umgebung zu nächtigen, wo in unmittelbarer Nähe ein stromerzeugendes Kraftwerk stand, dass im schlimmsten Fall die ganze Schweiz über Jahrzehnte oder Jahrhunderte hinweg verseuchen könnte. Es war die Begegnung mit der Angst, welche diese Nacht speziell machten. Ich dachte, was wäre wenn... gerade heute Nacht im Kraftwerk etwas geschieht? Zum Glück war ich so müde vom vielen Fahren, dass sich eine stille Gleichgültigkeit gegenüber «was wäre wenn» entwickelte. Immer der Nase nach, ich war ein Typ der auf die Dinge reagiert, so wie sie sich entwickelten. Also hörte ich auf mich zu sorgen und schlief schliesslich zufrieden ein.
Jedes Detail dieser winterlichen Radreise möchte ich hier nicht preisgeben, jedenfalls war es schluss und endlich so, dass ich über zwei Wochen hinweg aus dem Rheintal über Zürich, Solothurn, Biel, Yverdon-Les-Baines nach Lausanne und schliesslich nach Genf gefahren war. Die Nächte waren kalt und lang. Fünfzehn Stunden im Tag lag ich im Schlafsack. Ich musste, hatte keine Wahl, schlief ständig im Zelt, weil ich mir das so vorgenommen hatte. Und hätte ich diese Zeit jeden Tag nicht im Schlafsack verbracht, so wäre mir so kalt geworden, dass ich vermutlich eine Unterkühlung erlitten hätte. Ich war dieser winterlichen Kälte ununterbrochen ausgesetzt.
Sie zehrte an mir und nahm mir zunehmend die Kraft zum und Lust am Fahren. Es schneite in diesen zwei Wochen zu meinem Glück nicht, doch dafür war es kalt. Und weil es kalt war und die Tage nur wenige Stunden lang im Licht der Sonne standen, hatte ich folgende Probleme:
Zahnschmerzen durch das ständige Ausgesetztsein an der Kälte --> Zahnschock durch warme Mahlzeiten und Tee --> noch intensivere Schmerzen durch nachfolgende Kälte -> persönliche Sturheit immer im Zelt übernachten zu wollen --> in Pensionen, Hotels, sowie auch AirBnB zu übernachten war für mich ausgeschlossen, da ich mich nicht gegen das Coronavirus testen lassen würde, um erstens gemäss meiner Haltung zu handeln und zweitens nicht dieses toxische System mit meinem Geld zu füttern.
Die ständige Kälte und die letztere Konsequenz hatte schliesslich zur Folge, dass ich mich in Genf in eine Jugendherberge schleppte und fast ohne Hoffnung fragte, ob eine Übernachtung auch ohne Testerei möglich sei. Zu meiner Überraschung konnte ich dann dort übernachten und war so froh wie selten zuvor in meinem Leben. Man stelle sich vor bei null Grad Tagestemperatur und minus zehn Grad Nachttemperatur ständig in der Kälte draussen zu sein. Baden in fliessenden Gewässern wird zur Hölle. Ich konnte mich danach nur durch stundenlanges Liegen im Schlafsack aufwärmen. Einmal verzichtete ich vier Tage lang aufs Baden im Freien, weil es unerträglich kalt war. Ein Feuer um den Körper aufzuwärmen konnte ich nirgends auf meiner Reise entfachen, da trotz fehlendem Schnee und Regengüssen das Totholz der Wälder - flächendeckend von Zürich bis Genf - nass war.
Es war mir eine praktische Lehre diese Kälte durchstehen zu müssen und an meinem Willen und meiner überzeugten Konsequenz zu zweifeln, weil mein Körper an der Kälte sichtlich Schaden nahm und auch meine Seele an der beständigen Einsamkeit fast erfror. Innerlich wusste ich bereits, dass diese Radreise in Richtung Süden an die Wärme nicht mehr lange dauern würde. Gerne wäre ich in Genf in den Zug gestiegen und wäre damit bis an Mittelmeer gefahren um dort wieder auszusteigen und in einer angenehmeren Temperatur weiterzufahren. Doch die Regierung Frankreichs untersagte es mir als gesunden, jedoch gegen genanntes und bekanntes C-Virus ungeimpften Schweizer Bürger die Fahrt mit den französischen, öffentlichen Verkehrsmitteln. Auf Macrons Aussage, dass er den Ungeimpften Bürgern seines Landes (und offensichtlich auch den Ausländern) das Leben so schwer wie möglich machen zu wollen (um sie natürlich zu etwas zu bewegen, was sie nicht wollen und nach den international vereinbarten Menschenrechten keineswegs mussten), auf diese Aussage des amtierenden französischen Präsidenten gehe ich hier nicht ein, will sie allerdings erwähnt wissen. Vielleicht meinte es Emanuel nur gut, so wie er es bei seinen Vermittlungsversuchen zu Beginn der diesjährigen osteuropäischen Eskalation vielleicht auch gut meinte.
Um zu meiner Fahrradreise zurückzukehren: Ich fuhr schliesslich wider aller Vernunft bei Genf über die französische Grenze. Es war ein abgelegenes Strässchen, das ein winziges Schweizer Dorf und ein noch winzigeres Französisches Dorf verband. Dort gab es keine Grenzkontrolle, die mich kontrolliert und aufgrund fehlender Impfung usw. nicht hätte einreisen lassen. Die Aussicht, mich illegal in einem Land aufzuhalten, weil ich eine einzelne, rechtswidrige und menschenunfreundliche Auflage, Einschränkung, Massnahme nicht befolgte, machte mich wütend und gleichzeitig sehr stolz auf meinen Trotz, der sich auf meiner Eigenverantwortung begründete. Dabei erinnerte ich mich gerne an George Orwells Buch 1984 und daran, dass es genauso gut 2022 betitelt hätte werden können.
Die Nacht, welche ich bei Bellegard sûr Valserine zwischen Hauptstrasse und Zuggleis verbrachte, gab mir schliesslich den Rest. Am Abend vor der Nacht stellte ich fest, dass mein dickes Winter-Isolationsmättli ein Loch hatte, und nicht aufzupumpen war. Reparieren mit den dazugehörigen Leim konnte ich das Mättchen nicht, da die Temperatur zu kalt und die Luft zu feucht war. Ich wusste, dass es eine kalte Nacht werden würde. Was ich nicht wusste, war ob ich nun weiterhin immer der Nase nach reisen möchte. Mir war so bitterkalt in Körper und Seele, dass ich mich entschloss noch an jenem Abend zu entscheiden wohin meine Nase am nächsten Morgen gerichtet sein sollte. Dass ich kaum französisch konnte und durch meine Fahrradreise ständig ausgezehrt und kaum zu Kommunikation mit meinen Mitmenschen fähig war, lenkte meine Entscheidung in die eine Richtung. Da ich allerdings auch ein sehr stolzer und konsequenter Mensch war und weiterhin bin, wollte ich nicht schon nach zwei Wochen aufgeben. So liess ich dann mein Zelt zurück und schritt melancholisch und einsam zum Bächlein Valserine hinab. Das Brausen des Wassers war meinen Ohren eine Wohltat. Gerne hätte ich diese Umgebung in den Farben des Frühlings erblickt. Wie gerne hätte ich Kopf und Körper in dieses erfrischende Nass getaucht. Und noch so gerne hätte ich mein Zelt hier aufgeschlagen und wäre eine Woche lang geblieben. Nichts davon würde ich tun. Meine Nase zeigte heimwärts. Nichts wollte ich mehr wissen von dieser Kälte und der Einsamkeit, die ich durchzustehen hatte.
Nach fünfhundert Kilometern Radreise, zwei Wochen Fahrradfahren, beständiger Kälte und zunehmender Einsamkeit (weil ich niemandem sonst begegnete, der mit dem Fahrrad unterwegs war, und mit dem ich mich hätte austauschen können) hatte ich mich des Abends am Ufer der Valserine in Bellegarde, Frankreich dazu entschlossen meine Nase heimwärts zu richten.
Dies war die schwierigste Entscheidung, die ich jemals ganz alleine zu treffen hatte und war schliesslich zur Ansicht gelangt, dass es auch die vernünftigste Entscheidung werden würde. Heute ist das Radfahren für mich nur noch eine Art Transportmittel, nicht aber eine romantisierte Fortbewegungsart. Meine winterliche Radreise hatte mir die Freude am Fahrradfahren genommen, mir jedoch gezeigt, dass die Seele immer nur zu Fuss Schritt mit dem Körper halten kann. Mit relativer Sicherheit kann ich nun behaupten einmal in meinem Leben eine Radreise unter den vermutlich widrigsten Umständen (wetter- und gesellschaftstechnisch) gewagt zu haben und diese Erfahrung nicht wiederholen zu wollen.
Um zum Schluss noch einmal auf den Titel dieses Beitrags zu kommen: Der Reiseratschlag «Immer der Nase nach» mag in Zeiten der Ungewissheit nützlich sein, doch wenn alles und jeder gegen einen zu stehen scheint und man selbst zu stolz ist, dies zu erkennen, wird die Nase so wie bei mir, schon sehr bald wieder heimwärts gerichtet sein. Ausgeschwärmt in eitlem Stolz und heimgekehrt in durchgefrorener Hülle und verlorener Selbstsicherheit. Ich möchte die Zeit auf dem Rad nicht missen, doch zurückwünschen tue ich sie mir nicht.