Ich, die Milchkuh – wenn ein Moment ein Leben verändert
Als frischgebackene Mama hat man so einige Hürden zu bewältigen und befindet sich plötzlich mitten in einer neuen Welt. Nichts kann einem darauf vorbereiten, wie sich plötzlich all seine Prioritäten verlagern und dieses klitzekleine Wesen zum Mittelpunkt der Welt mutiert. Man übernimmt die wohl grösste Verantwortung des Lebend– nämlich die für ein schutzloses Lebewesen. Und das alles, während man quasi ohne Ausbildung mitten in diesen neuen Job katapultiert wird.
Eines dieser für mich neuen Phänomene der Mutterschaft, war das «Stillkoma». Mir war nicht bewusst, wie unbeschreiblich schön es ist, sein pappsatt gestilltes Baby im Arm zu halten. Diese völlig glückselig und ruhig schlafenden Winzlinge, die sich in Mamas Arm kuscheln oder alle Viere von sich strecken und mit den letzten Tropfen Milch an der Lippe hängend völlig k.o. da liegen. Ich habe es meistens nicht geschafft, meine Tochter in diesem Zustand abzulegen. Nicht weil sie aufgewacht wäre, sondern weil diese Momente so unheimlich kraftspendend und kostbar sind.
An diesem einen Tag, als ich genau so mit meinem kleinen Milchmonster im Arm auf dem Sofa sass und wartete, bis sie aus ihrer komatösen Glückseligkeit aufwachte, hatte es mich einhändig scrollend auf die Facebookseite einer Mamigruppe verschlagen. Mein Blick fiel auf einen Beitrag einer Mutter, die sich darüber beklagte, dass sie auf dem Land lebe und seit Tagen wegen einer Kuhweide nicht mehr schlafen könne. Meine erste Reaktion: Ich rollte mit den Augen, schnaubte verständnislos und dachte mir nur «Willkommen im Landleben, du Nuss. Hier gibt es halt Kühe, die haben oft Glocken und manchmal muhen sie. Aber die braucht es eben, damit du deine Milch geniessen kannst. Oder denkst du Stadtkind, die wächst im Supermarkt im Kühlregal?». Zum Glück habe ich weitergelesen. Denn nicht die Glocken oder das Muhen störten sie. Sondern die herzzerreissenden Schreie der Kühe, die ihr die Haare zu Berge stellten. Sie habe sich Sorgen um die Tiere gemacht und beim nächsten Spaziergang den Bauern gefragt, ob etwas mit den Tieren nicht stimme, ob sie krank seien. Der Bauer aber winkte nur ab und meinte emotionslos «Ach nein, da haben nur viele gerade Kälber bekommen und die haben wir dann halt geholt und jetzt schreien sie halt ein paar Tage nach ihnen, aber das legt sich bald». Er habe sich umgedreht und die völlig verdutzte Frau einfach stehen gelassen.
Da sass ich nun, starrte fassungslos abwechselnd auf mein Display und auf meine Tochter und fühlte mich wie vom Zug überfahren. Da schlief mein kleines Bündel Glück seelenruhig in meinem Arm und genoss sein «Milchkoma» und mir wurde schlagartig bewusst, dass Milchkühen diese Bindung zu ihren Babys entrissen wird. Irgendwie fiel mir in diesem Moment alles wie Schuppen von den Augen.
Ich hatte mein Leben lang diese kleinen weissen Plastikiglus gesehen, die für Kälber nach der Geburt verwendet werden. Aber ich hab’ nie begriffen, was sie bedeuteten. Ich habe gesehen, wie die Kälber mit Flaschen gefüttert wurden, aber ich fand es damals einfach nur süss und dachte mir nichts dabei. Ich habe mir nie überlegt, dass eine Kuh eigentlich nur Milch gibt, weil sie Mutter geworden ist und ihr Kind ernähren möchte. Aber da sass ich jetzt, selbst Mutter und MEIN Baby mit MEINER Milch ernährend und erst in diesem Moment wurde mir klar, was wir diesen Müttern und Babies mit unserem Konsum antun.
Das riss mir komplett den Boden unter den Füssen weg. Bei Fleisch hatte ich bewusst nicht richtig hingesehen. Aber die Milchindustrie habe ich immer als absolut unproblematisch und tierlieb romantisiert. Immerhin wuchs ich auf dem Land auf und habe mein Leben lang Kühe friedlich auf Weiden stehen sehen. Und da sass ich nun mit einer lähmenden Mischung aus Schock und Scham. Dabei habe ich eigentlich nichts Neues erfahren. Ich konnte es nur jetzt erst richtig einordnen. Nicht der arme Mann, der seinen Arm bis zur Schulter in eine Kuh stecken musste, um sie zu besamen, war der Leidtragende. Immerhin wurde da gerade eine Kuh zwangsbefruchtet. Also quasi vergewaltigt und missbraucht, sogar gegen ihren Willen geschwängert. Sie spürt die Bewegungen ihres Kindes, beschützt es, lässt es in ihrem Körper heranwachsen. Sie spürt, dass da etwas in ihr gedeiht. Dann bringt sie es zur Welt und vollbringt damit eine körperliche Meisterleistung, die jede Mutter nur allzu gut nachvollziehen kann. Und da liegt es dann, ihr neugeborenes Baby. Sie will sich um es kümmern, es sauber lecken und umsorgen. Und kaum kann sie es wirklich auf dieser Welt begrüssen, kommen Menschen und zerren es von ihr weg. Was das für eine Mutter bedeutet – ob Mensch oder Tier – kann ich mir gar nicht ausmalen.
Das Kalb kommt in sein Iglu oder eine Box. Es bekommt seine Mutter in den meisten Fällen nie mehr zu Gesicht und ist von Geburt an allein auf dieser Welt. Es kriegt in die meiste Zeit auch nicht die Milch seiner Mutter, sondern Pulvermilch. Die Kuh hingegen, wird fleissig gemolken, um die Milchproduktion im Schuss zu halten. Das Euter entzündet sich dabei häufig. Jede Mutter, die einmal eine Brustentzündung hatte, kennt diese Schmerzen. Das Kalb ist in diesem System lediglich ein Nebenprodukt. Es ist notwendiges Übel, damit die Kuh Milch gibt – überflüssig, sobald es auf der Welt ist. Folglich wartet ein sehr kurzes Leben auf sie.
Was da alles in meinem geliebten Glas Milch steckt habe ich immer GEwusst und doch war es mir nie BEwusst. Mein Wissen wurde mir so blumig schön und selbstverständlich vermittelt, dass ich es immer für richtig und normal hielt. Sogar für gut. Und plötzlich sass ich da und begriff, was ich eigentlich immer schon wissen hätte müssen.
Den inneren Zwiespalt, den dies hervorrief, konnte ich nicht ertragen. Aber ich wusste auch, dass ich mich nicht nur gegen die Milchindustrie aussprechen und gleichzeitig das Kalbsschnitzel aus dem Kälbli-Nebenprodukt weiterhin geniessen konnte. In meinem Schockzustand recherchierte ich diverse Aspekte der Nutztierindustrie. Es gab nur eine logische Konsequenz. Wenn ich verhindern wollte, diese Industrie zu fördern, musste ich meine Ernährung komplett umstellen und vegan leben. Denn die Liebe zu meiner Tochter war so stark und allgegenwärtig, dass ich nicht mit meinem Gewissen vereinbaren konnte, einem anderen Kind oder einer anderen Mutter so viel Leid und Unrecht anzutun.
Diese Erkenntnis löste etwas in mir aus, was ich nicht erwartet hätte: Angst. Genau genommen eigentlich fast schon Panik. Ich war mit dieser Vorstellung einfach masslos überfordert. Ich war so geprägt von tierischem Konsum, dass ich kaum gewusst hätte, was ich veganen Gästen hätte auftischen können. Und da ging es immerhin nur um eine einzige Mahlzeit. Aber jeden Tag? Für den Rest meines Lebens? Und nicht zuletzt musste ich mich ja auch gegen meine bisherige Haltung entscheiden. Ein Teil meiner Identität. Und auch gegen die Überzeugungen meines kompletten Umfelds.
Oh ja… das machte mir Angst… und wie! Könnte ich das überhaupt? Und wie sollte ich das denn um Himmels Willen anstellen? Ich hatte keine Ahnung! Aber ich musste einen Versuch wagen. Nicht zuletzt, weil da ja auch noch meine Tochter war, der ich ein Vorbild sein möchte. Was würde ich ihr denn erklären, wenn sie mir irgendwann solche Fragen stellen würde? Wie könnte ich all das rechtfertigen? Ich konnte es nicht. Und so musste ich handeln. Kurz vor meinem 30. Geburtstag begann ich, mich zu informieren und vorzubereiten. Gleichzeitig hatte ich aber zu meinem Geburtstag schon längst zur grossen Grillparty eingeladen. Ich beschloss, das so zu belassen und dieses eine Fest nochmals so zu feiern, wie ich es seit Jahren am liebsten tat: Mit einer grossen Ladung Grillfleisch. Es sollte so etwas wie mein letztes Mahl in diesem alten Leben werden. Und doch blieb die Angst vor dem Ungewissen. Ich habe mir also meinen eigenen kleinen Ausweg geschaffen und mit mir selbst eine 30 Tage Challenge vereinbart. Das schien mir irgendwie machbar. Und wenn ich es nicht durchhalten würde, könnte ich immer noch nach 30 Tagen aussteigen, ohne mein Gesicht zu verlieren.
Und dann kam der Tag, an dem ich einfach umstellte. Eine 180° Kehrtwende ohne Übergangsfrist - immer noch nervös und unsicher. Dass einem eine Ernährungsumstellung so viel Angst und Sorgen bereiten könnte, hätte ich mir nicht vorstellen können. Aber dennoch war ich mir in meinem Entschluss auch sehr sicher. Ich wartete also auf die Versuchungen, auf die Hürden und Probleme, auf die Tiefpunkte und Herausforderungen - aber sie kamen nicht. Noch nie in meinem Leben konnte ich diszipliniert essen oder eine Diät durchhalten. Als absoluter Genussmensch war ich ein Leben lang an der Grenze zum Übergewicht und überschritt sie auch phasenweise. Aber als Veganerin hatte ich nie das Bedürfnis, zu cheaten. Nie das Bedürfnis, doch ein Steak zu bestellen oder ein Glas Milch zu trinken. Ich war nicht plötzlich disziplinierter geworden. Ich hatte einfach nur eine völlig neue Motivation. Es war nie so, dass ich etwas nicht essen DURFTE. Ich WOLLTE es nicht und ich hatte gute Gründe dazu.
Schwer gefallen ist mir das nie. Nur mit meinem Umfeld eckte ich immer wieder an. Auf viel Verständnis bin ich nicht gestossen. Und auch wenn sich die meisten Menschen Mühe geben «mich machen zu lassen», spürte ich die Ablehnung fast täglich. Ich stand plötzlich auch unter genauer Beobachtung. Einmal husten oder niessen und schon war klar «das hast du dir mit deiner Ernährung selbst zuzuschreiben!». Da ich mich das erste Mal in meinem Leben ein gesundes Gewicht halten durfte, wurden mir zudem diverse Essstörungen nachgesagt. Und bei uns auf dem Land ein Restaurant zu besuchen, macht als Veganerin in den meisten Fällen auch keinen Spass. Hürden gab es also sicherlich genug. Aber alle kamen lediglich von aussen.
Darum war mir all das auch herzlich egal. Es ging mir so gut, wie noch nie in meinem Leben. Ich fühlte mich befreit und fit. Und das Bewusstsein, dass kein Tier wegen meiner Nahrung leiden musste, fühlte sich einfach nur richtig und gut an. Die 30 Tage waren entgegen all meinen Erwartungen überhaupt kein Problem. Ich informierte mich immer weiter und neben den ethischen Aspekten kamen plötzlich viele weitere Gründe für Veganismus für mich hinzu. Am Ende der 30 Tage gab es keinen einzigen Grund, wieder in meine alten Muster zurück zu kehren. Auch heute, nach mehr als 3 Jahren, hat sich daran nichts geändert. Mein altes Ich hätte davon rein gar nichts gehalten.
Liebe Alex von vor ein paar Jahren, ich weiss, du hattest noch nicht die Erfahrung und noch nicht den Mut, um genauer hinzusehen. Ich fände es wahrscheinlich ganz furchtbar, wenn ich dir heute begegnen müsste. Diese Ignoranz und Überheblichkeit würde mich zur Weissglut bringen. Aber ich bin dir auch unheimlich dankbar, dass du irgendwann den Mut hattest, hinzusehen, deinem Herzen zu folgen und dich weiter zu entwickeln.
Ich weiss aber auch, dass du damals nicht bereit gewesen wärst, dir Argumente anzuhören. Und ich weiss, dass es vielen Menschen so geht. Mir ist es deshalb wichtig, nicht zu missionieren und anderen meine Meinung überzustülpen. Ich versuche deshalb einfach nur offen von meinen persönlichen Erfahrungen zu berichten, durch Einblicke in unsere Küche und Teller Menschen zu inspirieren und durch kritische Fragen zum Nachdenken zu bewegen. Schön, dass ich das auch an dieser Stelle tun darf.