Horch! – eine Kindergeschichte
Seit Audira mit vier Jahren durch ihren Unfall nichts mehr sehen kann, hört sie viel besser. Obwohl sie schon neun ist und sich kaum daran erinnert, wird sie immer traurig, wenn sie daran denkt. Es tut ihr weh, wenn aus ihren blinden Augen die Tränen rollen. Es tut nicht fest weh, nur ein bisschen. Sie ist traurig, weil ihre Mutter bei diesem Unfall gestorben ist. Beim Gedanken an sie fühlt sich Audira immer wie das einsamste Mädchen auf der Welt. Vater merkt das meistens und bald darauf sind dann plötzlich ihre Freundinnen auf der Treppe zu hören.
Die Menschen sind für sie Geräusche. Da Audira die Menschen nicht sehen kann, merkt sie sich was sie hört. Sie merkt sich, Was die Menschen sagen, wie ihre Stimme klingt, wie sie atmen und wie sie sich bewegen. Für Audira ist es nicht wichtig, ob ein Mensch dick oder dünn ist, ob er gross oder klein ist. Viel wichtiger ist für sie, ob ihr die Stimmen der Leute gefallen und ob Menschen mit ihr sprechen und spielen, obwohl sie nichts sieht. Ihre besten Freundinnen verbinden sich immer die Augen, wenn sie mit Audira spielen. So sind sie sich gleich und niemand hat einen Vorteil beim Spiel. Audira kann sagen, wer die Treppe hinauf steigt, wenn sie den Menschen kennt. Ihre Familie und Freunde errät sie sogar an der Art wie sie atmeten. Gerüche kann sie sich nicht gut merken, ob das vor dem Unfall anders gewesen ist, weiss sie nicht. Aber ihre Ohren sind nicht mehr die gleichen wie davor. An die Gesichter von Vater und Grosseltern mag sich Audira noch gut erinnern. Sie sind die einzigen Gesichter, von denen sie noch ein Bild im Kopf hat. An Mutter mag sich Audira noch erinnern. Wenn sie aber versucht ihr Gesicht zu sehen, dann sieht sie nichts. Audira weiss nicht mehr wie ihre Mutter ausgesehen hat und ist häufig traurig deswegen.
Audira wohnt seit Geburt in einem alten, weit über hundertjährigen Haus gemeinsam mit Vater und Grosseltern. Unten im Erdgeschoss wohnen die Grosseltern und oben im ersten Stockwerk Audira mit ihrem Vater.
Wenn der Vater ihr sagte, sie solle die Wäsche aus dem Korb nehmen und in den Keller bringen, dann hielt sie inne und horchte bevor sie in den Keller stieg. Sie horchte und achtete darauf, ob die Maschine vielleicht schon lief und sie sich so den Weg sparen konnte. Sie horchte, ob nicht vielleicht der Grossvater in Keller war und werkelte. Grossvater wollte nie beim Werkeln gestört werden. Immer hatte er Zeit für die kleine Audira, nur dann nicht, wenn er an etwas werkelte.
Wenn sie ihn dann störte, konnte er fuchsteufelswild werden. Ihre Grossmutter stritt sich manchmal mit ihm. Nach diesen kurzen aber lauten Streitereien, die durchs ganze Haus zu hören waren, besonders für Audira, ging Grossvater meist in den Keller und werkelte. Zwar wusste Audira, dass Grossvater nicht wirklich böse auf sie wäre, wenn sie in trotzdem stören würde im Keller. Audira verstand, er wollte einfach seine Ruhe haben. Ihre Grosseltern mochten sich nicht besonders, sie blieben nur der Umstände, der Ehre wegen und der Einfachheit halber zusammen. Alleine, ohne den jeweils anderen kämen sie mit dem Leben nicht mehr zurecht. Es hatte also alles sein Gutes und Schlechtes. Gut war es, wenn Grossvater im Keller werkelte, denn dann musste sie nicht die Wäsche hinunterbringen. Auch Vater respektierte es, wenn Grossvater im Keller werkelte. Ob er schon seit immer werkelt, nachdem er sich mit Grossmutter gestritten hat?
In den stillsten Stunden hört Audira sogar das Haus sprechen. Wenn Vater und die Grosseltern nachts im Bett liegen, und Audira noch wach ist, horcht sie in die Stille hinein. Die Holzwände im alten Haus haben kleine Löcher und manchmal hört sie wie eine Maus durch die Wand in ihr Zimmer trippelt. Dann ist sie immer ganz leise und wagt nicht zu atmen um die Maus ja nicht zu verscheuchen. Gerne hätte sie einmal eine Maus in den Händen gehalten. Manchmal erlaubt Vater ihr ein Stück Käse vor ein Loch in der Wand zu legen. Dann ist sie immer doppelt gespannt und will so schnell wie möglich ins Bett, um zu hören ob eine Maus sich den Käse schnappt. Doch nicht immer achtet Audira darauf, ob eine Maus kommt. Es gibt andere Dinge, die sind auch so spannend wie eine Maus. So hört sie manchmal darauf wie sich das alte Haus im Wind bewegt. Dann knarren die Bälken immer so schön. Auch das Pfeifen des Windes gefällt ihr. Sie wünscht sich irgendwann auch einmal so pfeifen zu können. Ist es ganz leise im Haus, schläft Audira ganz schnell ein und wacht erst auf, wenn Vater sie am nächsten Morgen weckt.