Dörfliches Erbe
Bild/Illu/Video: Lucas J. Fritz

Dörfliches Erbe

Es ist ein Abend im Frühling. Morgends war es bewölkt, nachmittags goss es in Strömen und abends ist es sonnig. Trocken war es in den letzten Tagen und Wochen gewesen. Der frühe Frühling deutet auf einen langen und heissen Sommer mit nachfolgendem bitterkalten oder sehr milden Winter hin. Ob ich mit dieser Vermutung recht haben werde? Ich ging den Bachverlauf durch ein düsteres Tobel hinauf. Das Wasser toste, so laut wie eine Kettensäge doch nicht unangenehm lärmend, sondern lösend, mich aufatmen lassend nach tatenreichen Tagen. Bei der Burg machte ich ein Päuschen und setzte mich hin. Die Schuhe zog ich aus und liess die Füsse vom eiskalten Bergbachwasser umspülen, bis ich sie beinahe nicht mehr spürte und mir am ganzen Leib kalt war. Dann zog ich mir die Schuhe wieder an und durchquerte den Bach von Stein zu Stein hüpfend. Den Steilhang hinauf kraxelnd gelangte ich schliesslich zu den Mauern im Felsen.


Die Burg war innerhalb einer über 30 Meter hohen Höhle erbaut worden. Nur noch die Aussenmauer und einzelne Holzbalken hielten dem Verfall stand. Der Rest des Ipschlösslis war über die vergangenen Jahrhunderte bereits eingestürzt.

Wenn ich jetzt mein ganzes Leben lang mich nur auf dem Staatsterritorium der Schweiz befinden dürfte, weshalb sollte ich dann nicht alles in Erfahrung bringen was es an Information über diesen Bach und diese Burg zu lernen gibt? Weshalb soll ich nicht meine direkte Umgebung kennenlernen, statt mich schon Monate vor den Ferien über Hotels und Strände im Ausland Gedanken zu machen. Wenn sich niemand um die Erhaltung von Informationen über die Vergangenheit kümmert, geht das Erbe, unser dörfliches Erbe verloren. Wir können von unseren Vorfahren lernen, können versuchen zu verstehen wie ihr Leben war und was davon uns jetzt fehlt und worin wir besser sind als sie.


Ich war hier zuhause. Über fünfzehn Jahre lang bereits und trotzdem wusste ich viel zu wenig über mein eigenes Dorf. Wer ausser meine Generation und die nachkommenden sollte die Eigentümlichkeiten des Dorfes an unsere Nachkommen weitergeben. Doch dafür müsste sich unsere, meine Generation dafür interessieren. Tut sie das? Vereinzelt gibt es Menschen, die sich dafür interessieren, die grosse Masse jedoch kümmert sich lieber darum auf ihren Handybildschirm zu glotzen und ihr Leben zu verschwenden. Und so übernehme ich diese Aufgabe für mein Dorf. Ich hoffe nicht allein zu sein mit dem Wunsch meinen Heimatort kennenzulernen.


Weshalb nicht etwas neues wagen und die eigene Heimat zum neuen Sehnsuchtsort werden lassen? Nach einer Ewigkeit trat ich aus der Burg hinaus, ging zurück zum Bach hinunter und an der anderen Tobelseite den schmalen Wanderpfad hinauf bis zur grossen Wiese. Über die Wiese ging ich zur Kiesstrasse und trat den Abstieg ins Dorf an. Es waren Wolken aufgezogen. Der Berger Calanda, das Stelli, das Kreuz und die Alp Salaz und der ganze unbewaldete Berhang rund um die Quellen des Cosenzbachs waren in Regenwolken versunken. Vielleicht schneite es dort oben sogar. Vereinzelt spürte ich feine Regentröpfchen auf der nackten Haut.


Die Vögel zwitscherten, der Bass des Baches lag mir noch in den Ohren, unter meinen Füssen raschelte altes Laub und ich war glücklich. Glücklich, weil ich erkannte, dass dieser Abend im Frühling magisch war. Weit oben am Berg regnete oder schneite es gar. Die Gipfel lagen noch im Schnee. Die Bäume leuchteten nur so vor grün und Kraft. Die gegenüberliegende Talseite lag halb im Schatten der Wolken und Berge und halb im sanften Schein der untergehenden Sonne. Es sah aus, wie wenn ein Sonnenstrahl schmal durch ein Fenster scheint und einen winzigen Teil der Wand mitsamt Konturen der Möbel beleuchtet. Ebenjene Konturen der Landschaft, der Berge machten den Sonnenschein magisch und wundervoll. Plötzlich sah das gesamte Tal neu aus. Die intensiven Farben waren ungewohnt. Einzelne tiefliegende Regenwolken wurden von der Sonne durchleuchtet und schimmerten gelblich. Durch ihren gelblichen Schimmer wurden die Fassaden der Häuser und Bauernhöfe beleuchtet. Gelblich leuchtete auch der nasse Strassenbelag. Hier bin ich zuhause, dieser Ort ist ebenso magisch wie alle anderen Orte der Welt, man muss dazu nur die eigenen Augen öffnen und die Welt sehen wie sie ist.


Hier bin ich zuhause. Würde ich mein gesamtes Leben hier verbringen, so wäre dies genauso in Ordnung wie wenn ich die gesamte Welt besuchen würde. Dankbar bin ich, dass ich dafür dankbar sein darf.

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