Die Weisheiten des Alchimisten
Alle Menschen haben immer genaue Vorstellungen davon, wie wir unser Leben am besten zu leben haben. Die Entscheidungen waren nur der Anfang von Etwas. Wenn man einen Entschluss gefasst hatte, dann tauchte man damit in eine gewaltige Strömung, die einen mit sich riss, zu einem Ort, den man sich bei dem Entschluss niemals hätte träumen lassen.
Wer in den Lebensplan eines anderen eingreift, der wird nie seinen eigenen entdecken.
Der Kameltreiber schien von der Kriegsbedrohung jedoch nicht sonderlich beeindruckt. «Ich lebe», sagte er dem Jüngling, während er sich einen Teller Datteln schmecken liess, in einer Nacht ohne Lagerfeuer und ohne Mondschein. «Während ich esse, tue ich nichts weiter als essen. Wenn ich laufe, dann mache nichts ausser laufen. Und wenn ich kämpfen muss, dann wird dieser Tag zum Sterben ebenso gut sein wie jeder andere. Denn ich lebe weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft. Ich habe nur die Gegenwart und nur diese interessiert mich. Wenn du immer in der Gegenwart leben kannst, dann bist du ein glücklicher Mensch. Dann wirst du bemerken, dass die Wüste lebt, dass der Himmel voller Sterne ist und dass die Krieger kämpfen, weil dies Teil des Menschen ist. Dann wird das Leben zu einem grossen Schauspiel, zu einem Fest, denn es ist immer und ausschliesslich der Moment, den wir gerade erleben.»
Jeder einzelne Tag trägt die Ewigkeit in sich.
«Denke nicht an das, was wir zurücklassen», sagte der Alchimist, als sie durch den Wüstensand ritten. «Alles hinterlässt unauslöschliche Spuren in der Weltenseele.» «Die Menschen träumen mehr von der Rückkehr als von der Abreise», meint der Jüngling, der sich schon wieder an die Stille der Wüste gewöhnte. «Wenn das, was du gefunden hast, rein ist, dann wird es nie vergehen. Und du kannst eines Tages zurückkehren. Wenn es jedoch nur ein Lichtmoment war, wie eine Explosion eines Sternes, dann findest du beim Wiederkommen nichts mehr vor» (…) Der Mann sprach die Alchimistensprache, aber der Jüngling wusste sehr wohl, dass er sich auf seine grosse Liebe bezog.
«Was kann ich tun, um in die Wüste einzutauchen?» «Höre auf die Stimme deines Herzens. Es kennt alle Dinge, denn es kommt aus der Weltenseele und wir eines Tages dorthin zurückkehren.»
«Warum müssen wir auf die Stimme des Herzens hören?», fragte der Jüngling, als sie am Abend Rast machten. «Weil dort, wo es weilt, auch dein Schatz liegen wird. Weil du es niemals zum Schweigen bringen kannst. Und selbst wenn du so tust, als ob du es nicht hörst, so wird es doch immer wiederholen, was es vom Leben und von der Welt hält.» «Selbst wenn es trügerisch ist?», fragt der Jüngling. «Wenn es dich zu täuschen vermag, so ist es wie ein Hieb, auf den du nicht gefasst bist. Wenn du dein Herz gut kennst, dann wird nichts unerwartet kommen. Denn du wirst deine Träume und deine Wünsche kennen und mit ihnen umgehen können. Niemand kann vor der Stimme seines Herzens fliehen. Deshalb ist es besser, darauf zu hören, damit niemals ein Hieb kommt, auf den du nicht gefasst bist.»
Alles was zweimal passiert, wird sicher auch ein drittes Mal passieren.
«Jeder Moment des Suchens ist ein Moment der Begegnung», sagte der Jüngling seinem Herzen. «Während ich meinen Schatz suchte, waren alle Tage erfreulich, denn ich wusste, dass mich jede Stunde meinem Traum näher brachte. Während ich meinen Schatz suchte, entdeckte ich Dinge auf meinem Weg, von denen ich nie geträumt hätte, wenn ich nicht den Mut gehabt hätte, Dinge zu versuchen, die Hirten sonst versagt bleiben.»
Immer, bevor ein Traum in Erfüllung geht, prüft die Weltenseele all das, was auf dem Weg gelernt wurde. Sie macht das nicht etwa aus Bosheit, sondern damit wir uns mit unserem Traum zugleich auch die Lektionen zu eigen machen, die wir auf dem Weg dorthin gelernt haben. Das ist der Moment, in dem die meisten aufgeben. In der Sprache der Wüste nennen wir das verdursten, wenn schon Palmen am Horizont sichtbar werden. Eine Suche beginnt immer mit dem Anfängerglück. Und sie endet immer mit der Prüfun des Eroberers.
«Ihr habt die Krieger mit dem Blick bezwungen», bemerkte der Jüngling überwältigt. «Die Augen zeigen die Kraft der Seele an», entgegnete der Alchimist.