Die ganze Wahrheit
Bild/Illu/Video: Priscilla Du Preez

Die ganze Wahrheit

«Um die Gefühle an­derer zu schonen.» Was soll dieser Nonsens? «Findest du mich dick? », fragt die Frau ihren Mann. «Nein, natürlich nicht. Du bist so dünn und schön wie eh und je», antwortet der Mann selbstverständlich. Dabei bringt seine Frau beinahe 100 Kilo auf die Waage, bei 1.70 Meter Körpergrösse. So etwas nennen wir lügen aus Anstand, lügen, um die Gefühle anderer zu schonen. Traurig, wir müssen andere belügen, so wie diese sich selbst belügen, um in Frieden leben zu können. Vor einigen Tagen ist mir im Buch «Komm ich erzähl dir eine Geschichte» von Jorge Bocays folgende Geschichte begegnet:


Der Wahrheitsladen

Ein Mann läuft durch die Einkaufsstrassen einer Stadt. Er erblickt ein Ladenschild «Wahrheitsladen» und entscheidet sich den Laden zu betreten. Der Laden ist vollkommen leer. Bloss ein Schild mit den Dienstleistungen steht in der Mitte des Raumes. Hier wird folgendes angeboten: die ganze Wahrheit, die halbe Wahrheit, oder andere Teilwahrheiten.


Natürlich will ich die ganze Wahrheit. Nichts da mit Trugbildern, Rechtfertigungen, moralischen Mäntelchen. Ich wollte meine Wahrheit schlicht und klar und ungeteilt. Sie winkte mich in eine andere Abteilung des Ladens, wo die ganze Wahrheit verkauft wurde.


Der Verkäufer dort sah mich mitleidig an und zeigte auf das Preisschild. «Der Preis ist hoch», sagte er.

«Wie viel?» fragte ich, entschlossen, die ganze Wahrheit zu erwerben, gleichgültig, was sie kostete.

«Wenn Sie diese hier nehmen», sagte er, «bezahlen Sie mit dem Verlust Ihrer Ruhe und Gelassenheit, und zwar für den Rest Ihres Lebens.»


Traurig verliess ich den Laden. Ich hatte gedacht, ich könnte die ganze Wahrheit billig bekommen. Ich bin noch nicht bereit für die Wahrheit. Immer wieder sehne ich mich nach Ruhe und Frieden. Ich habe es noch nötig, mich mit Rechtfertigungen und moralischen Mäntelchen zu täuschen. Ich suche immer noch Schutz bei meinen nicht in Frage gestellten Anschauungen.

                                                                                                  Geschichte von Anthony de Mello


Sagt diese Geschichte nicht alles über unser Leben aus? Wir leben aus einem Konstrukt von Lügen. Wer von uns hat alle seine Anschauungen schon überdacht und hinterfragt? Wer von uns hat versucht zu verstehen, was er nie verstanden hatte? Leider bilden die ehrlichen Menschen unter uns und solche, welche alles geradeaus sagen können und keinen moralischen Bedarf zur Lüge sehen die Minderheit. Andererseits muss man sich fragen, weshalb sind die Menschen nicht bereit die (ganze) Wahrheit zu ertragen. Es kann sehr edel sein zu lügen, um anderen Schmerz zu ersparen. Doch sicherlich der falsche Ansatz. Lieber eine ehrliche, unschöne Wahrheit als eine schöne Lüge.


Wer mit der Wahrheit nicht umgehen kann, muss es einfach lernen. Man kommt nicht darum herum.

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