Bild/Illu/Video: Julia Kulewatz

Der «teilchenzoo» lärmt

So ist es nicht verwunderlich, dass Callies ihren «teilchenzoo» als ein (einziges Poem) untertitelt. Es handelt sich um ein Gedicht, in vielen römisch durchnummerierten Teilen, die man gar «Gehege» nennen könnte. Sich verlaufen ist zu jeder Zeit möglich. Die Nummerierung selbst ist ebenfalls als ein Rundgang angelegt, sie läuft vorwärts und rückwärts. Stehenbleiben darf man auch. Verweilen. Denken. Untersuchen. Der Leser bestimmt, was zuerst ins Auge fällt, dann kommt selbst das Unsichtbare, das Allerkleinste, zu Wort und schnell wird klar:


Dieser Zoo lärmt.


«O.» (selbst ein Kern, ein Schlupfloch, ein Unbestimmtes) fragt, noch bevor der Rundgang beginnt: «fährst du der kernnähe zu?» Die Geschwindigkeit wird festgelegt, wir laufen nicht, wir fahren plötzlich, beschleunigen im Durchlauf der Poem-Gehege-Zellen. Die Zeichen erscheinen dem Leser, der zugleich Betrachter und Denker wird, zunächst einander gleichberechtigt und frech, werden größer und kleiner, lauter und leiser, sind von Anfang an sogar etwas vorlaut dem vermeintlich Großen, dem Leser gegenüber. Natürlich, schließlich hat man sie so lange nicht gehört, dass römische Dichter zurück auf den Plan gerufen werden müssen. In «I» beginnen wir folgerichtig mit dem Kern, der uns allen bekannt ist; wir betreten einen Apfel. Vielmehr erfahren wir sein lyrisches Keimen. Callies baut die Welt zurück, der Kern der Dinge, die Welten sind, gehört weiterhin erforscht, wenn schon nicht verstanden, auf den Versuch und die Versuchung zu Versuch, darauf kommt es den Texten an, bevor wir das Kleinste (das es nicht gibt, denn laut Lukrez sollten wir weder Minimum noch Maximum annehmen) wieder leise stellen, «diese klüngelwirtschaft unter aller materie. was da alles ineinander & miteinander, was sich beherbergt & wohin mit all dem schutt, den wir uns anhäufen, ein verwirktes haus & wir sind schüchtern & die welt zurückbauen bis hierhin.» (II.) -  «bis hierhin» heißt bis in den Text, bis ins Poem, bis in die Zeichen, die sichtbaren und die unsichtbaren, die anwesenden und die abwesenden, bis in die Leerstellen und Hohlräume hinein, die wiederum schöpferischer Raum werden für die, die hinsehen können. Es rettet den Betrachter nur seine Vorstellungskraft, die Kraft seiner Gedanken. Callies baut ihnen Gehege, getarnt als Poem, die selbst Zellen sind und wieder kleinere Zelle werden, bis zum Kern. Wachsen oder schrumpfen will alles und jeder. Es geht um die Bewegung im Werdegang, in der Werdefahrt, wie wir zu Anfang erfahren.


Schließlich haben wir nur ein Poem lang Zeit und zugleich alle Zeit der Welt. Dabei werden wir ertappt, beim Zeit haben, beim keine Zeit haben, beim Wachsen und beim Schrumpfen. Die Mitte ist still, dort schweigt auch ein «teilchenzoo»: «wenn viele stimmen. wenn wir aus wasser & ding. wenn wir müde & wenn wir an dir fischen & und das pfützenartige an uns, das reisfelartige, das eigenartige an unserer kleinen zelle, die durst hat.» (XXXIII.) Dass offenbar selbst die kleinste Zelle ein Verlangen, einen «durst» hat, verweist auf die Rückverbindung allen Seins zum Wasser. Alles strebt und wir sind zurück in der griechischen Antike, klopfen gedanklich an bei Thales von Milet, dem Begründer der antiken Naturphilosophie, lassen Lukrezʼ Annahme nur einen Durchgang, nur eine weitere Tür bilden, denn es geht noch weiter, noch höher, noch tiefer, bis in den Urgrund hinein, dessen Oberfläche vielleicht einmal ein Zeichen berührt hat, vermutlich ein unsichtbares, oder für uns abwesendes.

Julia Kulewatz ist studierte Literaturwissenschaftlerin, unabhängige Verlegerin und Autorin im Herzen Deutschlands. Sie unterrichtet kreatives Schreiben und löst Schreibblockaden an Universitäten und anderen Einrichtungen.

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