«10 Minuten»
Bild/Illu/Video: Marcus Duff / cascadas

«10 Minuten»

Sie hatte sich den Tag ihn Zeitabschnitte zerlegt und hielt sich immer penibel daran. Zeitabschnitte gaben ihr Sicherheit, das hatte sie von klein auf gelernt, ehe sie die Welt draussen, ausgeschlossen hatte.

Sie mochte die Sonne nicht und eigentlich mochte sie gar nichts, was ausserhalb ihrer Welt war, hinter der Grenze, die sie gezogen hatte. Es war eine Entscheidung, um die sie täglich mehr ringen musste, aber das Fenster für zehn Minuten zu öffnen, gehörte zu einem dieser festen Zeitabschnitte. Kühle Luft strömte in das kleine Zimmer im ersten Stock, es war das einzige, fremde, das in ihre Wohnung eindringen konnte. Sie wollte unsichtbar sein, bleiben.


Auf dem Trottoir ging eine Frau vorüber und ihr Blick fiel auf den Baum, in dem zwischen grünen Blättern Vögel zwitscherten. Auf der anderen Strassenseite im dritten Stock hatte die junge Familie Besuch bekommen und obwohl sie nichts hören konnte, erahnt sie ihr Lachen. Sie fühlte weder Neid noch Freude, bloss Heimweh. Vom nahen Sportzentrum war das Klatschen und Jubeln vieler Menschen zu hören, ein plötzliches Gefühl von Wärme durchströmte ihren Körper, Gedanken und Erinnerungen blitzen kurz auf. Gebannt genoss sie diesen seltenen Augenblick, ehe ein flüchtiger Schatten am Fenster auftauchte.


Von der Feuerleiter hatte sich eine graue, fast unscheinbare Katze dem Fenster genähert. Sie schnupperte vorsichtig am Rahmen und streckte zögerlich den Kopf in die kleine Fensteröffnung. Im Inneren nahm sie eine Person war, konnte diese jedoch nicht erkennen, nur erahnen. Auch drang kein Geruch nach draussen. Die Katze hatte Hunger, fürchtetet sie sich aber vor geschlossenen Räumen. Unschlüssig, ihre Pfote ins Innere der Wohnung zu setzen, zuckte sie zurück.


Sie hatte die zarten Bewegungen der Katze beobachtet und auch den Rückzug bemerkt. Was würde sie tun, wenn die Katze in ihre Wohnung eindringen würde? Die Grenze überschritt. Flüchtig registrierte sie, dass die zehn Minuten bald vorüber sein würden und ein Gefühl von Pflicht drang an ihre Oberfläche. Langsam hob sie die Hand zum Fenster und es glich einem unscheinbaren greifen nach diesem Mut, den sie vor so langer Zeit verloren hatte.


Sie schloss leise das Fenster, zart stupste die Katze mit ihrer Nase gegen das Glas. Ehe sich beide entfernten.


Grenzen mussten mit Mut überwunden werden.

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