paradisus in terra
Bild/Illu/Video: Lucas J. Fritz

paradisus in terra

Die beiden brechen ihr Spiel abrupt ab und setzen sich auf den Platz vor der Kirche. Sie sind mitten auf dem Platz, doch das scheint sie nicht zu kümmern, wieso sollte es auch? Sie rücken zusammen und tuscheln irgendetwas. Zuerst sprechen sie leise dann immer lauter, bis sie wieder aufstehen. Ihre Stimmen klingen kindlich und unbeschwert. Es ist vier Uhr nachmittags an einem gewöhnlichen Mittwoch im Februar.


Fast keine der wenigen Menschen in den Strassen tragen lange oder gar schwere Kleidung. Die Temperaturen sind sommerlich und der Himmel wolkenlos blau. Von dem nahen Fährhafen her erklingt das Horn der Fähre, der zweitletzten für heute. Nach acht Uhr abends kann man die Insel gar nicht mehr verlassen. Natürlich könnte man, doch ein Privatboot zu mieten ist unwahrscheinlich und teuer. Und mit dem Helikopter vom Flughafen im Süden der Insel abzufliegen noch unwahrscheinlicher und teurer. Wenn man nirgendwo anders mehr hinkann, wird die unmittelbare Umgebung zur neuen Welt. Die Buben spielen sich jetzt abwechselnd den Ball zu, davor hatten sie jeweils für sich selbst gespielt. Wie unschuldig die Welt hier doch sein darf, wenn die Kinder einfach so am Nachmittag alleine ohne Aufsicht vor der Kirche Fussballspielen dürfen und jeder ihre Anwesenheit als selbstverständlich erachtet.

Ich fühle mich zurückversetzt in meine Kindheit. Ach, wie schön es doch früher war. Als Kind hatte ich kaum irgendwelche Ziele und lebte nach der Schule meist ganz gelassen vor mich hin. Manchmal habe auch ich mit dem Ball auf unserer Strasse gespielt. Mir steigen Tränen in die Augen aus Rührung vor der Unschuld dieses Ortes hier. Wie friedlich es hier ist. Vor dem klaren Himmel über den weissen Häusern fliegt ein Vogelschwarm. Auf die Distanz lässt sich nur wage erahnen, um welche Art von Vögeln es sich handelt. Ich tippe auf gewöhnliche, aber dressierte Stadttauben. Mein Blick richtet sich erneut auf die Jungen unten auf der Strasse. Ihr Lachen macht mich glücklich. Mir ist wohl dabei zu wissen, dass wenigstens hier die Welt noch in Ordnung ist und die Liebe herrscht. Ein leichter Wind fährt mir durch die Haare. Ein Insekt fällt mir auf mein Blatt Papier, das vor mir auf dem Tisch liegt. Nicht im Traum würde es mir einfallen es jetzt grundlos zu töten. Sanft blasse ich den Käfer an. Er ist zu diesem Zeitpunkt an diesem Ort nicht erwünscht. Schliesslich bemerkt der kleine Zeitgenosse sein Versehen, merkt, dass er das Blatt verlassen soll, damit ich weiterschreiben kann.

Die Palmenwedel der Bäume wehen im schwachen Zug des Windes hin und her. Meine Haare fallen mir unversehens ins Gesicht. Ich wische sie mir hinter ein Ohr und betrachte nun wieder die Strasse drei Stockwerke tiefer. Der Lautstärke des Verkehrs nach zu urteilen, scheint es Feierabend oder das Ende der Siesta zu sein. Was die Menschen hier wohl arbeiten? Eigentlich eine blöde Frage, wahrscheinlich dasselbe wie wir zu Hause auch tun. Doch worin mag ihr Lebenszweck bestehen? Und sind sie damit vielleicht sogar zufriedener und glücklicher als wir in der Schweiz. Man könnte ebenso fragen, was genau denn das Rezept des Glücks ist. Diese Menschen hier scheinen es mir wortlos vorzuleben. Langsam schwindet die Sonne hinter dem Hügel im Südwesten. Der Himmel beginnt sich rötlich zu färben und entspannt mein Sein aufs Äusserste. Diese Reise nach hierhin, mensch wohin soll ich sonst noch reisen? Das Leben hier ist ruhig und beschaulich. Ob es immer und ewig so ist? Zeitlos entwickelt sich die Welt hier, zeitlos meine ich zu sein. In dieser kleinen Stadt am Meer in La Gomera, der ursprünglichsten Kanareninsel findet über kurz oder lang jeder seinen Weg zu sich selbst und in die Insel hinein.  

Wie friedlich es hier ist. Es fällt auf, wenn man die Strasse beobachtet. Keine Eile, die Kinder spielen fröhlich, die Einheimischen schwatzen gelassen miteinander und da und dort spielt jemand Musik. Diese Insel ist Teil von Garten Eden. Wohin sonst, soll man noch hinwollen?

Mit der Zeit und der untergehenden Sonne wird es kühler. Dennoch ist es weiterhin warm genug, um barfuss und in kurzen Hosen und Hemd auf dem Balkon zu sitzen. Welche Moral die Einheimischen wohl haben? Worüber denken sie? Was sind ihre Sorgen? Sind meine ihresgleichen, oder was ist anders?

Der Tag neigt sich seinem Ende zu. Die untergehende Sonne schafft Platz für den Mond. Es dunkelt, die Nacht bricht herein, es wird Zeit zu Abend zu essen.

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