Im Tal des Grossen Königs
Als ich von der Dachterrasse zurück ins Wohnzimmer hinuntergehe, rutsche ich auf der Steintreppe aus und kann mich im allerletzten Moment noch am Geländer festhalten, bevor ich mit dem Kopf aufgeschlagen wäre. Meine Schienbeine hingegen schlagen mit voller Wucht gegen die Steintreppe. Das hat wehgetan. Es hat zwar nur kurz genieselt, der Steinboden ist dennoch nass und rutschig geworden. Ich bin barfuss, wahrscheinlich ein Grund weshalb ich ausgerutscht bin. Auch verantwortlich ist sicher mein Starren auf den massiven Felsen hinter dem Haus, an den ich mich irgendwie nicht gewöhnen kann. Jedesmal wenn ich das fünfhundert Meter hohe Steinmassiv betrachte, wirkt es neu und ungesehen. Ich habe mich schon einige Male gefragt ob es dort einen Wanderweg hinauf gibt? Irgendwie kann ich das nicht glauben, denn der Felsen ragt beinahe senkrecht in die Höhe. Klettern wird auch kaum möglich sein, denn erstens habe ich dafür zu grosse Angst vor dem Hinunterfallen und zweitens ist das meiste Gestein der Insel sehr brüchig.
Tage haben wir verbracht nur am Strand zu liegen und dem Rauschen der Wellen zu lauschen. Wenn man dem Meer sehr lange zuhört, bemerkt man irgendwann, das es atmet und spricht. Eine einzelne Welle ist ein Atemzug und die Gesamtheit von Ebbe und Flut ist die Sprache des Urwassers. Das Leben ist gut, weil es einfach und ohne Sorge ist. Ganz in der Nähe des Valle Gran Rey leben Menschen in Höhlen direkt am Meer. Seit ich hier bin, will ich diese Menschen besuchen, doch irgendwie klappt es nie. Vielleicht will ich mir die Vorstellung nicht durch eine Realität ersetzen lassen.
Blick in den Spiegel: Meine Haut ist dunkelbraun. Wüsste man nicht, dass ich sonst ein weisser Bursche bin, könnte man mich für einen Nordafrikaner oder einen Libanesen halten. Die von der Sonne blondgefärbten Haare verraten meine Herkunft jedoch. Die Haare zusammengebunden, das Bärtchen gestutzt, der Blick fest auf mich selbst im Spiegel gerichtet: Mensch, ich gefalle mir selbst. Diese Feststellung ist selten, doch wenn ich es feststelle, bin ich glücklich.
Gemütlich und ganz langsam vergehen die Tage. Ohne Hast durchleben wir unsere Stunden unter der Sonne mal allein und dann wieder gemeinsam. Es nieselt nicht mehr. Die Tauben beginnen wieder zu gurren. Ein Motorrad fährt durch die Strasse und der Wiederhall des Motors stört die Ruhe des Ortes. Der Ort ist ein Paradies, der Tourismus hält sich in Grenzen, es gibt abgelegene Landschaften, in denen man tagelang für sich allein sein kann. Zum ersten Mal gehört habe ich von der Insel im Juli 2021. Damals noch im Militärdienst, verbrachte ich oft stundlang damit, Orte zu suchen, die ich nach dem Dienst besuchen würde. Die ganze Welt ist schön, jeder Ort auf seine eigene Art und Weise. Viele Orte will ich noch besuchen, La Gomera ist einer jenen, die man mehr als einmal besuchen will. Zufriedenheit durchströmt mich.
Erkenntnisse und Gedanken aufschfreibend, hoffe ich darauf, sie mögen mit der Niederschrift meinem Kopf entfliehen und Platz für neue Erkenntnisse und Gedanken schaffen. Immer das Gleiche zu denken, führt dazu, dass man entweder verrückt wird oder die Gedanken irgendwann aufhört zu beachten. Doch ebenso eine Erkenntnis ist, dasss ich meine eigenen Worte wieder und wieder werde lesen müssen, bevor das Erkannte sich in gelebtes Leben verwandelt. Leben braucht Zeit, gerade dann, wenn es gut sein soll.