«Die Essenz des Lebens»
Bild/Illu/Video: Milena Rominger

«Die Essenz des Lebens»

«Es ist eigentlich nichts Schlimmes», lächelt mir Ophelia zu, während sie vor einer dampfenden Tasse Tee sitzt. Ihre Hände drumherum, um sie aufzuwärmen. Ophelia ist eine junge Frau, Mitte dreissig. Sie wirkt bodenständig und weltoffen. Ophelia ist eine Frau, die sich nie vor ihrem wahren Gesicht verschlossen hat. Im Café erzählt sie mir, wie es war, als Minimalistin zu leben.


«Minimalismus war und ist noch heute ein Thema, welches mein Leben völlig auf den Kopf gestellt hat. Gerade jetzt ist dieses Thema so populär geworden, dass ich da einfach mitziehen musste. Ich habe mir YouTube Videos zur minimalistischen Wohnungseinrichtung angesehen, Heftchen und Bücher darüber gelesen. Ich wollte unbedingt so leben.»


Und das tut sie. Über vier Jahre lang, lebt sie nun in ihrer Wohnung ohne Fernseher, ohne Gästebett, ohne überflüssige Möbel.

«Ich habe gerade mal Besteck für zwei Personen. Das reicht, so brauche ich meine Abwaschmaschine praktisch nie. Zudem hilft es mir beim Sparen.»


Umweltbewusst ist auch so ein Thema, welches Ophelia nicht mehr loslässt.

«Wir leben mit so vielen Dingen, die wir gar nicht gebrauchen. Eines Tages habe ich gemerkt, dass mich diese Dinge mehr belasten als was sie mich glücklich machen.»


Ich fragte sie, was das denn für Dinge waren: «Zum Beispiel Küchengeräte. Einen Thermomix. Den habe ich eh nie gebraucht. Oder zehn verschiedene Bettbezüge. Meistens benutzte ich immer nur die zwei selben. Kleider. Ich merkte schnell, dass ich mich in drei, vier Kleidungsstücken am wohlsten fühlte und verschenkte all die anderen.»


Ophelia wurde also zur Minimalistin. Das war aber nicht immer so.

«Früher hortete ich alte Einrichtungsmagazine, Schuhe, Kleider, DVD’s und so weiter. Manches paar Schuhe verstaute ich wie Carey von Sex and the City im Backofenrohr.» Aber eigentlich sei ihre wahre Natur pragmatisch, nützlich, unkompliziert.


«In der Küche, da bin ich ein Neandertaler. Ich benutze einen Topf um heisses Wasser zu kochen. Einen Wasserkocher kommt mir überflüssig vor. Statt Mixer benutze ich einen Stampfer. Das geht schneller und ist weniger aufwändig abzuwaschen. Meine Freundinnen reden oft von ihren neuesten Küchenhelfer. Da komme ich nicht mehr mit. Ich fühle mich dann oft wie ein Bauerntrampel hinter dem Mond links.»

Ophelia lacht und schlürft ihre Tasse Tee.


Doch in was hat sie sich so getäuscht?

«Ich dachte; das ist jetzt mein Leben. Ich lebe ein minimalistisches Leben und mache es genau so wie es im Buche steht. Von den anderen wurde ich für meinen Lebensstil bewundert. Ich gab Tipps und Tricks, wie sie es selber schaffen konnten, befreiter zu sein. Doch plötzlich bemerkte ich, dass mir etwas in der Wohnung drastisch fehlte. Die Dekoration. Wenn ich durch die Stadt ging, an den Dekoläden vorbei, überkam mich immer wieder dieses beklemmende Gefühl, etwas zu verpassen. Schliesslich hatte ich nicht einmal mehr eine Vase daheim. Früher hatte ich nicht viel Wert auf Deko gelegt, doch jetzt kam es mir wie die Essenz des Lebens vor. Ich grübelte hin und her, liess die Läden wochenlang links liegen und unterdrückte mein Sehnsuchtsgefühl nach etwas Wohnlichkeit zu Hause. Ich konnte nicht den anderen Menschen als Minimalistin vorausgehen und heimlich zu Hause unnütze Deko aufstellen. Meine Wohnung war wirklich kahl und leer. Irgendwann dachte ich mir, ach scheiss drauf. Ich ging in den nächsten Laden und kaufte mir meine erste Vase in vier Jahren. Gleich danach beschmückte ich sie mit Blumen von der Wiese. Das kam mir ehrlicher vor, als wenn ich dazu noch Kitschblumen gekauft hätte. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr ich mich an dieser Vase erfreuen konnte. Tag für Tag schaute ich die Blumen darin an. Pflückte immer wieder neue und stellte sie festlich ins frische Wasser. Plötzlich fühlte ich mich viel wohler daheim.»


Und bei der Vase blieb es nicht. Zwar lebt Ophelia heute noch sehr bescheiden und zurückhaltend mit Möbeln, Kleidung und Küchenutensilien, aber sie gönnt sich immer wieder ein Stück Deko.

«Mein Lieblingseinrichtungsstil ist der Shabby Chic. Ich habe angefangen, Flohmarktstücke zu kaufen um diese umzugestalten. Meine kreative Ader habe ich bis zu meinem fünfunddreissigsten Lebensjahr überhaupt nicht wahrgenommen. Wie konnte ich mich nur so in mir täuschen? Um mir selber treu zu bleiben erzählte ich meinen Mitmenschen ehrlich über meine Neuorientierung. Das fühlte sich befreiend an. Ich musste niemandem etwas beweisen. Schon gar nicht denen, die keinen Sinn im Minimalismus sahen. Plötzlich sah ich einen Sinn in all dem unnützen Dekozeug. Es machte mich glücklich und belastete mich keineswegs wie die Dinge, die ich nie gebrauchte. Eine schön dekorierte Wohnung wurde für mich essenziell um mich darin wirklich wohl zu fühlen.»


Ophelia hat einen guten Mittelweg für sich gefunden. Es zeigt also einmal mehr, dass man sich ständig weiterentwickelt, nicht stehen bleibt und es sich lohnt, sich selbst treu zu bleiben. Egal was kommen mag.


*Name geändert.

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