Nadine Gerber und der Tabubruch
Ich habe vielleicht das Glück, dass mich diese Schicksale nicht so sehr aufwühlen wie vielleicht andere. Ich kann mich sehr gut abgrenzen. Ich hätte mir auch vorstellen können, Medizin zu studieren, weil mich die Dinge rund um den Körper sehr faszinieren. Es ist wichtig, dass man das Schicksal anderer nicht zu seinem eigenen macht. Trotzdem tut mir das, was in solchen Situationen passiert, sehr leid, es bewegt mich in diesem Augenblick, ich muss auch mal weinen. Aber dann gehe ich aus dem Raum raus und lasse es dort. Das ist nicht böse gemeint oder hartherzig, es ist einfach ein Selbstschutz, damit diese Arbeit überhaupt möglich ist.
Was hat Sie dazu bewegt, ein Buch über diese Arbeit zu schreiben?
Man sollte über etwas schreiben, das man kennt. Ich bin seit zwanzig Jahren Journalistin, ich bin also ein Faktenjunkie. Für mich ist zentral, dass meine Geschichten realistisch sind, sich genau so abspielen könnten, dass die Fakten stimmen. So suche ich immer mal wieder in meinem persönlichen Umfeld nach Themen, die auf allgemeines Interesse stossen könnten. Die Fotoengel haben sich somit angeboten. Ausserdem ist es mir auch wichtig, ein Tabu zu brechen. Es gibt so viele Betroffene und kaum jemand redet darüber. Warum nicht? Warum darf man über eine Krebserkrankung reden, aber nicht über ein tot geborenes Baby? Alles sind Schicksale, die berühren und die Betroffenen verletzen. Ich finde, man sollte offen darüber reden können, ohne komisch angeschaut zu werden.
Worum geht es genau in ihrem Buch?
Letztlich ist es einfach eine schöne Liebesgeschichte. Ein Roman braucht ein Setting. Die Fotoengel bieten dieses Setting. Es geht um Emma, eine Fotografin, die ehrenamtlich eben solche Fotos von stillgeborenen Babys macht oder von behinderten oder schwerkranken Kindern. Sie schafft so Erinnerungen, wo ein Mensch oder ein Kind eines Tages fehlen wird. Bei einem solchen Einsatz trifft sie nicht nur auf den jungen Witwer Lukas, sondern auch auf ihre Vergangenheit, die sie nie so richtig hinter sich lassen konnte. Sie braucht Lukas als Informationsquelle, obwohl sie ihn nicht leiden kann. Doch die beiden werden zur Schicksalsgemeinschaft. Und... Ja, irgendwann küssen sie sich dann. Den Rest müsst ihr selbst lesen.
Wieso möchten Sie dieses Tabu brechen?
Ich merke, dass die Gemeinschaft im Moment sehr offen ist für das Brechen von Tabus. Soziale Medien tragen wohl ihren Teil dazu bei. Frauen reden offener beispielsweise über Fehlgeburten, zeigen ihre von Schwangerschaften «entstellten» Bäuche, Cellulite. Sie wollen oft keine beschönigte Versionen ihrer selbst mehr, sondern zu Fehlern und Schicksalen stehen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich diesen Geltungsdrang, auch wenn er nichts beschönigt, gut finden soll. Gut finde ich aber auf jeden Fall die Enttabuisierung gewisser Themen. Ich denke, es wird noch lange brauchen, bis eine Mutter ihr auf Instagram gepostetes Babybauchbild nach einer stillen Geburt nicht löscht, sondern offen zugibt, dass das Kind zu den Sternen gereist ist. Ich denke, es ist richtig, darüber zu sprechen. Und immer mehr ist das auch der Fall.
Was möchten Sie den Menschen mit ihrer Arbeit zeigen/sagen?
Meinen Sie mit meiner schriftstellerischen Arbeit? Ich wähle oft Themen, die aufrütteln. Destruktivität, der Umgang mit Ruhm, die Bedeutung von Sozialen Medien. Ich möchte gerne ein Buch schreiben über die Schattenseiten von Dating-Plattformen oder über Mobbing. So oft tun wir Dinge, weil alle sie tun, ohne sie zu hinterfragen. Es ist nicht meine Art, meine Meinung in Sozialen Medien kundzutun. Ich schreibe keine Posts mit dem Hashtag #stayathome. Ich tue, was ich für richtig halte, hinterfrage aber alles. In den Büchern verarbeite ich ein bisschen meine Gedanken dazu. Wer etwas mitnehmen möchte, darf das gerne tun. So wie ich sehr gerne Gedanken von anderen mitnehme und in mein Leben integriere.
Ich bedanke mich bei Nadine Gerber für den höchstinteressanten Einblick in ihre Denkweise und ihr brandneues Buch. Dafür wünsche ich ihr vollen Erfolg!