Bild/Illu/Video: Livia Amstutz

Von Kindern und Soldat:innen – Schulalltag im Westjordanland

Mirvat begrüsst jedes einzelne von ihnen. Die Jungen und Mädchen mögen und respektieren sie, das sieht man sofort. Mirvat nimmt sich Zeit für sie, wirft einen Blick auf mitgebrachte Hausaufgaben oder klärt letzte Unklarheiten vor einer Prüfung.


Das einzig Ungewöhnliche an dieser morgendlichen Szene sind wir und die Soldat:innen. Wir - 2 Menschenrechtsbeobachter:innen bekleidet mit EAPPI-Westen - stehen neben Mirvat und wünschen zum grössten Vergnügen der Kinder in holprigem Arabisch einen guten Morgen. Soldat:innen der IDF, Israeli Defence Forces, stellen sich – genau wie Mirvat – jeden Morgen hier vor der Schule auf. Sie stehen auf der anderen Strassenseite, dem Eingangstor genau gegenüber, mit Blick in den Schulhof. Manchmal zu zweit, manchmal zu sechst, manchmal zu zehnt.

«Die Kinder fühlen sich sicherer, wenn ihr da seid. Ich kann den Unterschied im Unterricht spüren», sagt Mirvat zu uns. Genau deswegen kommen wir her: um der lokalen palästinensischen Bevölkerung auf deren Anfrage Schutz durch internationale Präsenz zu bieten. EAPPI – Ecomenical Accompaniement Programm in Palestine and Israel ist ein Programm des Weltkirchenrates und seit 20 Jahren in Palästina aktiv.


Al Minya liegt im Westjordanland, 20 Autominuten ausserhalb von Bethlehem. Die Strasse, die vor der Schule vorbeiführt, ist viel befahren und wird von Palästinenser:innen und israelischen Siedler:innen gleichermassen genutzt. Die israelischen Siedlungen Tkoa und Ma’ale Amos sowie der Outpost[1] Ibei HaNahal befinden sich unweit von Al Minya und sind das Zuhause von über 5000 israelischen Siedler:innen.[2] Nach humanitärem Völkerrecht sind israelische Siedlungen und Outposts im Westjordanland illegal. [3] Nach Stand Dezember 2022 gibt es trotzdem 132 Siedlungen und 146 Outposts in denen über 460 000 Siedler:ïnnen leben. [4]


Die Soldat:innen sind vor der Schule präsent, weil sie den Auftrag haben, Siedler:innen zu schützen. Das ist zumindest die Einschätzung von Benzi, einem ehemaligen IDF-Soldaten, der im Norden der Westbank ähnliche Einsätze leisten musste. Er ist Mitglied von Breaking the Silence, [5] einer Organisation ehemaliger israelischer Soldat:innen, die offen davon berichten, wie ihre Militäreinsätze in den besetzten Gebieten ausgesehen haben und was sie tun mussten. Ich hatte die Möglichkeit Benzi zu treffen und mit ihm über die Situation bei der Schule in Al Minya zu sprechen. «Wenn Siedlungen in der Nähe sind, geht es bei Militärpräsenz offiziell immer um Schutz, in Wirklichkeit geht es aber wohl eher um die Demonstration von Macht», meinte er dazu.

Tatsache ist, die Schulkinder und Lehrpersonen Al Minyas sind täglich mit Militärpräsenz konfrontiert. Vor einigen Tagen haben die israelischen Behörden direkt neben dem Schulgebäude einen neuen Militärstand aufgestellt. Seither steht ein Soldat oder eine Soldatin darin und richtet die Waffe auf die Strasse, auf der die Kinder zur Schule laufen.


Die gut 40 Minuten bis alle 200 Kinder angekommen sind und sich auf dem Schulhof zum Morgenapell versammelt haben, sind hektisch und angespannt. Der Verkehr ist gefährlich. Lehrer kommen raus, stoppen Autos damit die Kinder die Strasse sicher überqueren können. Fast täglich kommt es vor, dass vorbeifahrende Siedler:innen verlangsamen und uns Menschenrechtsbeobachtende aus dem Auto heraus fotografieren und filmen. Manche halten auch an, steigen aus und beginnen lautstarke Diskussionen mit den Soldat:innen und Lehrpersonen. Oft geht es um angeblich provokatives Verhalten der Kinder auf dem Schulweg oder unsere Anwesenheit verärgert sie. Glücklicherweise ist der Tumult normalerweise nach wenigen Minuten vorbei und die Sieder:innen fahren weiter.


Auch das Verhalten der Soldat:innen kann für angespannte Stimmung sorgen. Manche haben konstant die Hände an den Waffen und lassen den Schuleingang nicht aus den Augen. Andere rufen den Kindern unanständige Worte hinterher. Einmal sehen wir, wie ein Soldat seinen Zigarettenstummel nach einem Mädchen wirft, ein anderes Mal spuckt ein Soldat demonstrativ vor einer Gruppe Kindern auf den Boden. An einem guten Tag stehen die Soldat:innen desinteressiert herum, unterhalten sich miteinander oder bleiben sogar im Wagen sitzen.


An diesem Morgen informiert Mirvat uns, dass am Vortag, nach dem wir gegangen waren, einer der Soldaten in die Luft zu schiessen begann. Er tat dies während der Pause als die Jungen und Mädchen im Schulhof spielten. «Wir hatten Angst um unser Leben. Wir konnten danach keinen normalen Unterricht mehr abhalten. Ich habe den Kindern Geschichten vorgelesen, um sie zu beruhigen.» erzählt uns Mirvat.


Als wir am nächsten Morgen wieder kommen, ist das Gitter am Schultor abgedeckt. Die Soldat:innen können jetzt nicht mehr in den Schulhof sehen. Immerhin. Es ist ein Versuch ein klein wenig Sicherheit zu schaffen, an einem Ort an dem dies fast unmöglich scheint.




[1] Outposts sind Ansiedlungen im Westjordanland, die ohne Genehmigung der israelischen Regierung errichtet wurden und somit nach israelischem Recht illegal sind. Die Regierung geht in der Regel nicht dagegen vor. Outpost entstehen oft auf privatem palästinensischem Land. (https://www.yesh-din.org/en/glossary-terms-settlements-outposts-west-bank/)

[2] https://peacenow.org.il/en/settlements/settlement136-en

[3] Artikel 49 der 4. Genfer Konvention: https://ihl-databases.icrc.org/en/ihl-treaties/gciv-1949/article-49

[4] https://peacenow.org.il/en/settlements-watch/settlements-data/population

[5] https://www.breakingthesilence.org.il/

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