Ein schwerer Abschied
Bild/Illu/Video: Noah Silliman

Ein schwerer Abschied

Fast zehn Jahre waren Noah und Sarah nun zusammen. Es schien wirklich fast ein wenig so, als ob sie der lebende Beweis für das Sprichwort, dass es für jeden Topf einen passenden Deckel gibt, seien. Gewissermassen eine Seelenverwandtschaft oder einfach auch die grosse Liebe waren es, die sie durch manche Krisen brachten. Sie verstanden sich blind und schon früh, hatte Noah gemerkt, dass er in der Familie von Sarah eine Ersatzfamilie gefunden hatte. Er war unheimlich gerne bei ihnen zu Gast und fühlte sich willkommen und aufgehoben, als wäre er aus dem gleichen Blut. Teil der neuen Wohlfühloase waren auch die Grosseltern, die Sarah noch auf der Mutterseite hatte. Noah hatte seine schon früh verloren und war unendlich dankbar, dass er nochmals eine Chance erhielt von älteren, erfahrenen Personen ein paar Weisheiten mit auf den Weg zu kriegen.


Besonders inspirierend war dabei sein Grossvater Ernst. Auf der einen Seite hatte er einen wahnsinnigen Sinn für geschäftliche Dinge, auf der anderen Seite war er stets extrem grosszügig und nur zu sich selber geizig. Noah war jeweils hin und weg von seinen faulen Sprüchen und auch wenn sie gut 40 Jahre Altersunterschied trennten, verstand er durch ihn, wie wichtig es ist jeden Moment komplett auszukosten. «Neni», wie sie ihm alle sagten, war eine Legende, die nichts und niemand aufhalten konnte. Es schien fast ein bisschen so, dass das Lied «Mit 66 Jahren» von Udo Jürgens einzig und allein für ihn geschrieben worden war. Oft war der rüstige Rentner über den Winter im warmen Spanien und kümmerte sich wenig, um die Problemchen, mit denen sich der Rest der Schweizer so herumschlugen. Wenn er jemand nicht mochte, konnte er fast schon ein bisschen bösartig werden, aber wenn er einem mal ins Herzen geschlossen hatte, war er der liebste Mensch auf der ganzen Welt. Die Familie stand bei Ernst immer ganz oben, was eine Einstellung ist, die Noah eins zu eins auch auf sein Leben übertrug. Ein grosser Höhepunkt im Kalender waren jeweils die Geburtstagsfeste, bei denen nicht nur völlig übertrieben geschlemmt wurde, sondern auch alle Personen, welche, egal wie verstritten sie durchs Jahr hindurch waren, gemeinsam an den Tisch sassen und miteinander sprachen.

Kurz vor einem dieser grossen Feste, die Ernst zelebrierte wie kaum ein anderer ging es jedoch rapide mit ihm bergab. Noah konnte nur schlecht damit umgehen, dass die Ärzte seinem «Neni» nur noch ein paar Wochen gaben. Ein paar Wochen vor seinem Tod besuchten Sarah und er ihn nochmals. Aus dem Mann, der wie ein Monument für seine Liebsten eingestanden ist, war innerhalb von wenigen Wochen ein schwächlicher Greis geworden. Es brach Noah das Herz, dass Ernst vom Krebs dermassen zerfressen wurde und sein Antlitz inzwischen leider sogar schon ein wenig dem von Ötzi glich. Eine unangenehme Anspannung lag in der Luft, da alle Anwesenden wussten, dass dies wohl der letzte Besuch sein würde. An dem grossen Geburtstagsfest, welches aufgrund der fortgeschrittenen Krankheit vom Familienoberhaupt abgesagt wurde, hätten Sarah und er eigentlich eine Neuigkeit zu verkünden gehabt. Da dieser Besuch wahrscheinlich die letzte Gelegenheit war mit Ernst zu sprechen, entschieden die beiden sich, ihm darum, zwar ein wenig verfrüht, aber besser als nie, von dem kleinen Wunder zu erzählen, welches Sarah inzwischen unter ihrem Herzen trug. Es zerriss Noah schier beim Gedanken daran, dass Neni nie ihr erstes Kind in den Armen halten würde, doch er tröstete ihn mit den Worten «Das ist der Lauf des Lebens. Einer kommt und einer geht. Es hat nicht genügend Platz für alle.» Zwei Wochen später nahmen Sarahs Familie und Noah Abschied vom Ernst mit einem Gottesdienst, der unter die Haut ging und kein Auge trocken liess.


Im Frühling erblickte dann ihr erstes Kind die Welt. Da sie Neni so stark vermissten, entschieden Sarah und Noah sich, ihrem ersten Kind den Namen «Ernst» zu geben. So würden sie ihn sicher nie vergessen und zudem hatten sie der Legende zugleich so noch Tribut gezollt. Ihr Baby-Ernst entwickelte sich prächtig und hin und wieder kam es vor, dass er mit jemandem sprach, aber gar niemand da war. Man sagt ja, dass Babys und Kleinkinder sehr empfindlich sind für solche Dinge und Noah tröstete der Gedanke, dass Neni ihren Buben nun doch noch besucht und kennenlernen konnte. Irgendwie war er aber auch für Noah noch immer da. Er erwischte sich in den nächsten Monaten ständig dabei, wie er voller auf Rentner zusprang, weil er gedacht hatte, dass dies jetzt doch nur ein böser Traum gewesen sein muss und Neni sich nur wieder inkognito abgesetzt hat nach Spanien. Doch die irritierten Blicke der älteren Personen belehrten ihn eines Besseren. Schon verrückt, wie nahe Licht und Schatten, Freude und Leid oder eben in ihrem Fall Tod und Geburt waren. Es schien fast so, als ob Noah die ganze Zeit auf einer Schwelle tanzte.

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