Der letzte Ausweg
Als treuer Anhänger der Rockband kenne ich nach unzähligem Hören die Texte vieler Lieder mittlerweile auswendig. Bennington scheint die Musik als Ventil für persönliche Probleme genutzt zu haben. Mir erscheinen viele Songs so durchdringend, weil Bennington seine eigenen Gefühle und Gedanken einbrachte und die Musik auf diese Weise an Tiefe durch die Wahrheit gewann. So sang er in Liedern verschiedenster Alben immer wieder deprimierende Zeilen. Das Lied «Shadow Of The Day» des Albums Minutes to Midnight enthält Zeilen wie: «I close both locks below the window / I close both blinds and turn away / Sometimes solutions aren't so simple / Sometimes goodbye's the only way.» Übersetzt heisst das in etwa: «Ich verriegle beide Schlösser unterm Fenster / ich ziehe beide Vorhänge zu und wende mich ab / Manchmal sind Lösungen nicht so einfach / Manchmal ist Abschied der einzige Weg.»
Im Song «Easier To Run» des Albums Meteora singt Bennington: «It's easier to run / Replacing this pain with something numb / It's so much easier to go / Than face all this pain here all alone.» Auf Deutsch: «Es ist einfacher wegzurennen / (es ist einfacher) den Schmerz mit etwas betäubendem zu ersetzen / es ist so viel einfacher fortzugehen / als den ganzen Schmerz hier vollkommen alleine zu konfrontieren.»
Bennington sprach mehrmals öffentlich darüber an Depressionen zu leiden. Wenn ich mir nun vorstelle selbst an Depressionen zu leiden und über Jahrzehnte hinweg in Liedern über persönliche Gefühle und das Thema Depression zu singen, kommt mir der Verdacht, dass die Musik vielleicht nicht mehr das Ventil war, sondern selbst zum Problem wurde. Ein Ventil für etwas zu brauchen, setzt voraus, dass man ein Problem hat, welches man nicht direkt lösen kann oder will und darum eine alternative Handlung verwendet, um die negativen Gefühle und plagenden Gedanken loszuwerden. Bennington litt als junger Erwachsener aufgrund der Erlebnisse während seiner Kindheit an Drogensucht. Es scheint mir naheliegend, dass die Drogensucht ebenfalls eine Art Ventil für Benningtons Probleme gewesen war, respektive die Negativität von Gefühlen und Gedanken sowie Erinnerungen unterdrückt hatten.
Seelenschmerz
Eine persönliche Erfahrung, die einer Depression am nächsten kommt, hatte ich während meinen drei Jahren Lehrzeit. Durch den Anblick einer Person wurde ich ständig an eine vergangene Zeit erinnert. Bittere Gefühle der Reue beherrschten jede Woche aufs Neue mein Sein. Ich fand die Wunde in meinem Herzen während der Berufsschule jede Woche aufgerissen und mein Schmerz entfacht. Drei Jahre lang hielt ich diesen Seelenschmerz aus und fühlte mich sehr oft niedergeschlagen. Doch nie hatte ich mir ernsthafte Gedanken darüber gemacht mir das Leben zu nehmen. Mein Leid war zum Glück doch nicht so gross wie meine Freude am Leben. Während dieser drei schweren Jahre hörte ich unzählige Male die Alben Linkin Parks. So dünkt es mich heute, diese depressionsähnliche Episode während meiner Lehre gab mir das innere Feuer schreiben zu wollen. So konnte und wollte ich mich nicht mündlich über meine Niedergeschlagenheit äussern, hatte keinen Freund, dem ich mich mit meinen Gefühlen anvertrauen wollte, schaffte es aber schliesslich mich schriftlich so auszudrücken, wie ich mich fühlte. Das Papier und der Kugelschreiber wurden zu meinen engsten Verbündeten. Ihnen vertraute ich so vieles an, diesen stummen Zeugen von unterdrückten Gefühlen, ungesagten Gedanken und verschwiegenen Geschichten. Die erlebte Traurigkeit und gefühlte Sinnlosigkeit des eigenen Daseins wird mich immer begleiten, doch kann ich mich durch mein Ventil des Schreibens immer wieder aufs Neue davon befreien.
Wenn ich meinen ganzen Schmerz auf ein Blatt Papier niederfliessen liess und dieses Blatt im Anschluss zerknüllte und verbrannte, fühlte ich mich unendlich erleichtert. Wenn ich Bennington in Linkin Parks Liedern schreien hörte, dann schrie ich innerlich mit und liess all meinen Schmerz los und gab mich der Musik mit Leib und Seele hin. Für Bennington war das Ventil Musik nicht gut genug oder vielleicht eben zu viel des Guten. Im Juli 2017 erhängte sich der US-Amerikaner in seinem eigenen Zuhause.
Selbstmord scheint meiner Ansicht nach vieles zu sein. Mir scheint die Selbsttötung eine egoistische und feige aber ebenso eine mutige, gar selbstlose Tat zugleich zu sein. So ist Egoismus und Feigheit vorhanden, wenn man dabei Familie und Freunde hinterlässt. Mutig ist die Tat, weil der Selbstmörder sich seinem Schmerz, ob körperlich oder seelisch, hingibt und sich dazu entschliesst freiwillig aus dem Leben scheiden zu wollen. Bei näherer Betrachtung ist es vermutlich gar nicht der Mut, der uns Menschen zum Selbstmord treibt, sondern der Schmerz, doch der Mut muss vorhanden sein sich selbst das Leben nehmen zu wollen. Und doch auch der Egoismus, um alle Menschen und alles was einem lieb und teuer im Leben ist, zurückzulassen und sich der Ungewissheit des Todes hinzugeben. Viele Menschen fürchten den Tod. Der Selbstmörder hingegen fürchtet das Leben mit dem Schmerz mehr als die Ungewissheit darum, was nach dem letzten Atemzug folgt. Er ist Opfer und zugleich Täter seiner Selbst.
Tot und Begraben
Die Selbsttötung ist der letzte Ausweg. So hatte ich, wie vermutlich die meisten Menschen, mir in der Vergangenheit schon oft Gedanken über den Tod und auch über den Selbstmord im Allgemeinen gemacht. Ich kann mir ehrlicherweise gar nicht vorstellen wie gross mein Schmerz sein müsste, dass ich mich dazu entschlösse ernsthafte Vorbereitungen zu meinem Selbstmord zu treffen. Doch ich weiss, wie angenehm der Gedanke ist, tot und begraben sein zu wollen in Zeiten der Niedergeschlagenheit und tiefer Traurigkeit.
Und trotzdem lebe ich und dachte noch nie ernsthaft über Selbstmord nach. Wieviel Schmerz muss dann Chester Bennington durchlitten haben, dass er sich erhängte? Es muss unglaublich viel mehr Schmerz gewesen sein, zerstörerische Gedanken, fürchterliche Bilder der Erinnerung, abgrundtiefer Selbsthass und vielleicht Gefühle völliger Einsamkeit. Wie viel Mut musste Chester Bennington aufbringen für seinen Selbstmord? War es Mut oder trieb ihn die Verzweiflung in die Tat? Warum war er sein eigenes Opfer?
Im Artikel des Sängers auf Wikipedia steht eine mögliche Wahrheit geschrieben:
«Nach der Scheidung der Eltern im Jahr 1987 übernahm der Vater das Sorgerecht für ihn, kümmerte sich jedoch kaum um seinen Sohn; auch von seiner Mutter fühlte er sich im Stich gelassen. Das gestörte Verhältnis, das Bennington so zu seiner Familie entwickelte, gipfelte in dem Gedanken, seine Familienmitglieder zu töten und wegzulaufen. Im Kindes- und Jugendalter war er zudem sexuellem Missbrauch ausgesetzt, der nach seinem Bekunden im Alter von sieben oder acht Jahren begonnen hatte und erst endete, als er 13 Jahre alt geworden war. Aus Scham und Angst davor, als homosexuell verspottet zu werden, habe Bennington sich erst spät jemandem anvertraut.»
In mehreren Interviews äusserte sich der Sänger wie folgt: «Diese Welt zwischen meinen Ohren ist ein schlechte Nachbarschaft, in der ich mich am besten nicht alleine herumtreibe.» Wir werden nie wissen, welche Erlebnisse dazu geführt hatten, dass der Lead-Sänger der Rockband Linkin Park seine Innenwelt als derartig negativ beschrieben und sich schliesslich das Leben genommen hatte.
Ein neues Album?
Zum Schluss eine erfreuliche Nachricht für treue Anhänger der Rockband. Nach bald sechs Jahren seit Chester Benningtons Tod arbeitet die US-amerikanische Band an neuer Musik. Möglicherweise mit einem neuen Sänger. Erst kürzlich veröffentlichte die Band ein über zwanzig Jahre altes und bisher unveröffentlichtes Lied, welches du dir hier anhören kannst.