«Das Seil»
Nur ein König durfte das Land regieren und daher musste der nächste Nachkomme ein Junge sein. So bestimmte es die Tradition und der wurde sich seither unterworfen. Es kamen jedoch Zwillinge zur Welt und beide waren männlichen Geschlechts. So wuchsen sie auf und der Tag der Krönung rückte bedrohlich näher und näher, denn nur einer von ihnen sollte König werden – nur einem bot der Thron Platz.
Es begab sich eines Nachts, dass der favorisierte Thronfolger seinen eigenen Bruder ausser Landes und auf eine benachbarte Insel bringen liess. Diese Insel lag zwar in Sichtweite des Königreichs, doch galt sie als unerreichbar, denn zwischen ihr und dem Festland befand sich eine unüberwindbare Schlucht, die wie der Schlund der Hölle auseinander klaffte. Niemand versuchte sie jemals zu überwinden, denn ihn würde bloss der sichere Tod erwarten.
An den Händen gefesselt und mit einer dunklen Kapuze über dem Kopf, zwangen einige Knechte den unerwünschten Zwillingsbruder auf die Insel. Diese war seit jeher mittels eines Seils mit dem Königreich verbunden. Die Insel galt als eine Art Gefängnis und Aufenthaltsort für allerlei dubioses Gesindel, das im Königreich nicht erwünscht war. Der Neuankömmling erzählte dem Kreis der bereits Anwesenden seine Geschichte.
Im Laufe der Jahre wurde das Seil immer wieder gegen ein neues ausgetauscht. Der Zahn der Zeit nagte daran und irgendwann wechselte man es gegen ein stabiles Drahtseil aus. Nun konnte man es nicht nur mehr belasten, sondern auch elektrifizieren. Also stellte man es jedes Mal, nachdem eine Person über das Seil auf diese Insel verfrachtet wurde und sich die Untergebenen wieder in Sicherheit befunden hatten, unter Strom.
Oftmals befanden sich dichte Nebel in der Schlucht und erst nachdem sie sich aufgelöst hatten, legten sie den Blick auf die Skelette derer frei, die von der Insel flüchten wollten und abgestürzt waren. Früher, als das Seil noch nicht unter einer tödlichen Stromspannung stand, wollte man sich immer wieder zum Königreich hangeln. Doch dann schwanden die Kräfte, weil die Länge der Strecke unterschätzt wurde und einer nach dem anderen abstürzte.
Nächtelang trafen sie sich, sassen sie in verschworenen Gruppen zusammen und nähten große Tücher aneinander. In anderen Hütten wurden Körbe geflochten, um mittels eines riesigen Ballons die Insel verlassen zu können. Aber es glückte nicht. Pfeile von der anderen Seite rissen gewaltige Löcher in den Freiballon und liessen ihn mit all seinen Insassen abstürzen. Ständig beklagten irgendwelche Leute ihre Angehörigen, weil sie bei einem der vielen Fluchtversuche ums Leben kamen. Wenn sich Wasser in der Schlucht befunden hätte, würden einige schon versucht haben ans andere Ufer zu schwimmen.
Entweder hätten sie ihre Kräfte verlassen und wären ertrunken oder Raubfische hätten sie angegriffen und sie schliesslich aufgefressen.
Etliche Leute versuchten es, doch niemandem gelang es. Junge, Alte, Männer und Frauen – keiner gelangte jemals wieder lebend auf die andere Seite. Auch wurde die Insel permanent durch Fernrohre kontrolliert. Jede Veränderung, die in irgendeiner Weise auf Flucht hingedeutet hätte, wäre bereits in seinen Anfängen aufgefallen und würde eine Gegenmassnahme zur Folge haben.
Irgendwann kam jemand auf den Gedanken, den grossen Fluss der Insel so umzulenken, dass mit dem Wasser ein Meer zwischen der Insel und dem Königreich entstehen könnte. Es würde viele Jahre dauern, bis es nutzbar geworden wäre. Nur für gute Schwimmer würde sich dann eine Gelegenheit bieten, doch beileibe nicht für alle.
Und im Übrigen könnte das gesamte Unterfangen niemals von Erfolg gekrönt werden, zumal die Insel unentwegt unter Beobachtung stand.
Im Laufe der Zeit etablierten sich recht eigenartige Prozeduren auf der Insel, die jeder kommentarlos übernahm, als wären sie der Bestandteil einer jahrhundertelang gewachsenen Tradition. Jeder Neue wurde beschnuppert und jeder unbekannten Person wurde misstraut. Schliesslich könnte sie ein Spion des Königs sein.
Niemand, der auf der Insel weilenden Menschen wusste, wie der König aussah. Der ungeliebte Zwillingsbruder dieses Herrschers zu sein, brächte den Neuankömmling in arge Erklärungsnot und wahrscheinlich würde er nachts kein Auge schliessen können. Also war Argwohn allen Leuten bester Freund. Jeder baute sich aus kargen Mitteln eine Hütte und lebte darin. Dem Zwillingsbruder blieb nichts anderes übrig, als sich diesem Gefüge anzupassen.
Alle waren Verbannte, nur das hatten sie gemeinsam. Ansonsten war jeder des Nächsten Freund und gleichsam auch sein Feind.
Viel Zeit verging, bis der Zwillingsbruder, der sich mittlerweile als einer von ihnen verstand, sich auch unter sie mischte, als einer von ihnen akzeptiert wurde und sich ebenfalls eine bescheidene Hütte baute. Vertrauen existierte lediglich innerhalb der Hütten, in denen sich auch Familien bildeten. Auch des Königs Bruder wählte sich ein Weib zur Frau und gründete mit ihr eine Familie. Drei Söhne brachte sie zur Welt. Alle waren gesunde Kerle und wurden gross und stark.
Niemandem erzählte er seine wahre Herkunft – niemand wusste, wer er wirklich war. Er erzählte es weder seiner Frau noch einem seiner Söhne. Er war ein Deportierter, so wie alle dort.
Kaum eine Woche verging, in der nicht irgendjemand starb. Über das Seil kamen aber auch ständig neue Personen an, denen irgendetwas zur Last gelegt worden war. Der König regierte mit eiserner Hand und griff hart durch. Selbst kleinste Vergehen zogen üble Strafen oder die Verbannung auf die Insel nach sich. Unliebsamen Bürgern wurden nötigenfalls irgendwelche Delikte angehangen und sie auf die Insel geschafft, dennoch sie sich keines Vergehens schuldig gemacht hatten. Ihre Habe wurde beschlagnahmt oder den Angehörigen überlassen.
Der Zwillingsbruder hatte nur ein Ziel und nur ein Gedanke hielt ihn Tag für Tag und Jahr für Jahr am Leben: Flucht. Er wusste genau, dass es vor ihm noch niemandem gelungen war zu fliehen und warum es ausgerechnet ihm irgendwann glücken sollte, konnte er nicht begründen.
Jahr um Jahr verging. Er war einer von ihnen geworden und besass eine Hütte, eine Frau und drei Söhne. Aber seine Seele war dort nie angekommen … dort war sie nie daheim. Mit Leib und Seele und im Inneren seines Herzens war er der König, der Herrscher und Vater des Landes, das sich am anderen Ende des Seils befand. Dort war sein wahres Zuhause und dessen war er beraubt worden.
Zugestanden hatte es nur ihm allein. Er war der Ältere, der Erstgeborene und somit der rechtmäßige Erbe des Reichs. Doch sein Gemüt war leichtgläubig, ahnungslos und unachtsam … und in genau so einer solch unaufmerksamen Sekunde wurde er das Opfer seiner eigenen Vertrauensseligkeit und der Skrupellosigkeit seines Bruders.
Zu Sinnen kam er erst wieder, als er sich bereits auf der Insel befand. Sein eigener Bruder umgab sich seither mit dunklen Gestalten, die ihm die Treue schworen und sich dafür gut bezahlen liessen. Sie waren allesamt aus einem Holz geschnitzt. Nur mit ihrer Unterstützung konnte sein Bruder das Reich regieren. Die Beliebtheit des Volkes vereinte er auf sich allein, doch er war nicht da.
Die Zeit, die ihm noch blieb, bevor er völlig aus dem Sinn seiner Untertanen verschwinden würde, wurde knapp. Er erkannte die Situation schon lange, doch er sah keinen greifbaren Ausweg. Alle möglichen Fluchtversuche waren bisher gescheitert und die Klagen über die Toten waren lange Zeit zu hören. Das sollte nicht wieder geschehen. Eine weitere Flucht musste von einem jubelnden Erfolg verwöhnt werden.
Wieder traf er sich im Kreise der geheimen Gruppe. Mittlerweile war er zum Anführer dieser Vereinigung emporgestiegen. Er richtete sein Wort an die Ältesten und Weisesten dieses Kreises und bat um ihre Unterstützung, denn sein Vorhaben würde gewaltig werden. Von ihnen erhoffte er sich Hilfe, zumal sie die Bewohner der Insel besser kannten. Auch kannten sie die geografischen Beschaffenheiten des Landes, das ihnen nur als Insel bekannt war, erheblich besser als er.
Sie wussten um die Längen, Breiten und Höhen der jeweiligen Regionen. Wie tief lag die Schlucht vom Plateau entfernt und welche Strecke überspannte das Seil … um die Bedeutung und das Wissen war sich niemand bewusst.
Sein Plan war einen Schacht zu graben, der pfeilgerade in das Erdreich der Insel führen sollte, dann einen Winkel von neunzig Grad vollführen musste, um sich unter die Schlucht begeben zu können und dann wieder nach oben zu gelangen, wo ihn der Thron erwartet.
Er wusste, dass es eine sehr lange Zeit beanspruchen wird und den Beteiligten eine Menge an Schweiss und Mühe abverlangen würde.
Diesen Plan zeichnete er mit einem Finger in den Sand des Bodens, damit er ihn später problemlos wegwischen und gleichzeitig alle mögliche Beweise vernichten konnte. Rings umher sah er bloss nickende Köpfe. Jeder stimmte ihm zu. Niemand wollte dort bleiben.
Die Insel war noch immer das Land der Geächteten und der, die bloss anders dachten, deren Gesinnung eine andere war oder deren Gebet anders klang. Zu Hause fühlte sich dort noch niemand, denn sie alle wurden gegen ihren Wunsch und Willen dorthin abgeschoben. Noch immer wurde das Eiland als Strafkolonie verstanden, dennoch sich niemand einer Straftat bewusst war. Jeder fühlte sich wie ein Gefangener und in jedem loderte die Flamme der Flucht.
Um Helfer musste er sich also nicht sorgen. Die Leute, welche die meiste Erfahrung im Berg- und Grubenbau besassen, meldeten sich und arbeiteten zusammen mit ihm einen ordentlichen Plan aus, der das gesamte Projekt umfassen musste. Es war gigantisch. Ein mächtiger Schacht, der senkrecht in die Insel, unter der Schlucht entlang und direkt aufwärts in das Königreich führen sollte. Alles musste großzügig angelegt werden, denn es sollten möglichst viele Personen auf ein Mal zugegen sein, wenn der Durchbruch erfolgen würde. Es wäre nicht auszudenken, wenn dieser Versuch durch die Truppen des Reichs bereits in seinen Anfängen vereitelt werden würde. Diese Blamage dürfte niemals geschehen, darüber war man sich einig. Auch konnte der Abraum nicht ausserhalb der Gruben zu Halden geschüttet und gelagert werden. Also wurden die abgebauten Erdmassen gleichmässig in der Gegend verteilt, um den Beobachtern des Königreichs kein Motiv für Misstrauen zu liefern.
Als die letzten Einzelheiten besprochen wurden und keine Fragen mehr zu klären waren, es keine wertvolle Zeit mehr zu vergeuden galt und das komplette Projekt allseits für gut befunden wurde, stand der Entschluss fest, so bald wie möglich damit zu starten. Als oberste Regel musste die stete Unauffälligkeit gelten. Nichts durfte der Gegenseite auffällig erscheinen oder gar zu kriegerischen Massnahmen führen. Sich unentwegt beobachtet zu fühlen, missfiel ohnehin, doch nun wurde diese Unbehaglichkeiten erst deutlich.
Wer sich als freiwilliger Helfer meldete, musste diese Arbeit zusätzlich leisten und sein eigenes Werkzeug mitbringen. Zur Grube erschienen keine Scharen, sondern nur kleine Gruppen. Die ersten Meter besassen den Vorteil, vom Tageslicht erhellt werden zu können. In der Dunkelheit behalf man sich mit Fackeln und setzte dieses Tun fort. Erforderliche Treppenstufen wurden links und rechts in die Steilwände gehauen, sodass die Kommenden mit den Gehenden nie in Berührung kamen. Säckeweise wurden die Erdmassen, die den Schacht täglich wachsen liessen, grossflächig in der gesamten Gegend verteilt. Jede landschaftliche Veränderung der Insel könnte zu Schwierigkeiten führen.
Viele Wochen waren vergangen. Der erste senkrechte Schacht wurde fertiggestellt. Die Freude war riesengross. Überall wurde gefeiert. Die Leute, die sich aus eigenem Antrieb zu dieser Arbeit meldeten, liess man immer wieder hochleben. Ihnen galt der Dank aller Inselbewohner samt ihrer Frauen und Kinder, denn ohne ihr Dazutun blieb alles nur ein Traum.
Nun stand der Graben bevor, der unter der Schlucht entlang führte. Der Weg nach draussen wurde immer weiter und das Schleppen der Säcke mit dem abgegrabenen Erdreich zunehmend anstrengender.
Dieser Teil war zwar streckenweise der Längste und musste mit Stützbalken versehen werden, doch darüber befand sich kein Wasser. Stabile Stämme waren nun erforderlich und die wurden von den Arbeitern aus allen Regionen der Insel einzeln her gekarrt.
Jeden Tag schleppten sich die Freiwilligen nach getaner Arbeit von den Schächten nach Hause. Dort gönnten sie sich eine kurze Erholung und begaben sich danach zu ihrer regulären Beschäftigung, zumal sie sich und ihre Familie ernähren mussten. Vielen von ihnen fehlte es an Motivation, denn das anvisierte Ziel lag noch immer nicht in greifbarer Nähe.
Die allgegenwärtige Ungewissheit schlug in brutale Aggression um und ergriff das Gemüt eines jeden. Zwar wurde weder die Arbeit vor Ort oder im Privatbereich vernachlässigt, doch die Spannungen führten zu fast täglich stattfindenden Auseinandersetzungen.
Menschen mit demselben Schicksal wie der nächste prügelten bereits bei Geringfügigkeiten unbarmherzig aufeinander ein.
Nicht nur allein darum fiel es dem deportierten Zwillingsbruder des Königs von Mal zu Mal schwerer, seine Mannen anzuspornen – immer wieder. Es fehlte an sichtbaren Beweisen für den zu erwartenden Erfolg.
Mühsam ging es voran. Mit einfachen Werkzeugen gruben sich die Männer durch das Erdreich und andere schleppten die abgetragenen Brocken säckeweise ins Freie, um sie dort zu verteilen. Die Hitze war schier unerträglich. Jede Pore der Haut entpuppte sich binnen weniger Augenblicke zum Wasserfall und Hemden wie Hosen klebten an den verschwitzten Leibern der Männer. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich ihrer Kleidung zu entledigen und ihr Werk mit freiem Oberkörper zu verrichten.
Der bestialische Fäkalgestank gestaltete sich ebenso zur Dauerbelastung. Die zur Verrichtung der Notdurft bestimmten Plätze fanden kaum Beachtung. Sie aufzusuchen und sich durch das Halbdunkel zu tasten, war niemandes Wunsch. Also erleichterte man sich direkt in der Nähe seines Arbeitsplatzes und das taten fast alle so.
Tag für Tag, Woche für Woche und Monat für Monat. Oftmals hingen lose Wurzeln von der Tunneldecke und baumelte vor irgendeinem verschwitzten Gesicht. Fast immer erschrak sich die jeweilige Person dann zu Tode. Bei Würmern und anderem im Erdreich lebenden Getier war es ähnlich. Regenwürmer erfuhren ungeahnte Beachtung. Viele Bewohner der ewigen Dunkelheit kamen zum ersten Mal mit Licht in Berührung – wenn auch bloss mit dem blassen Licht einer Fackel.
Wie heiss musste es eigentlich in der Hölle sein, wenn die Temperaturen schon einige Meter unter der Erdoberfläche derart zunahmen? War die Insel also gar nicht die Hölle, dennoch sie jeder dafür hielt, zumal er das Königreich als sein persönliches Paradies wählte? Zum Himmel ging es nach oben und zur Hölle nach unten. Sobald sie sich unter der Schlucht hindurchgegraben hatten, sollte ihr Weg wieder nach oben führen … zum Licht.
Jeder Schlag mit der Hacke, jeder Stich mit dem Spaten und jede befüllte Schaufel wurde mit der Zeit schwerer. Das Leuchten der Fackeln erhellte gerade mal die nächste Umgebung und liess das meiste bloss erahnen. Vor ihnen lag die Zukunft und eine neue Freiheit, zu der sie sich allerdings erst graben mussten. Hinter ihnen lag das, was immer noch ihr täglich Leben bedeutete – ihre Familie.
Träume wurden laut. Worauf würden sie treffen und was hätte sich seither verändert? Stand ihr Haus noch oder müssten sie sich komplett neu orientieren? Wurden sie vermisst? Gab es ihre Freunde noch? Was wurde aus dem Leben, das sie dort liessen? Stand es noch für sie bereit und würden sie dort hineinschlüpfen können, wie in ein altes Paar Schuhe, die schon lange nicht mehr getragen wurden?
Den aktuellen Berechnungen zufolge befand sich das Projekt mittlerweile tief unter dem Reich des falschen Königs. Mehr als zwei Drittel waren also geschafft. Diese Nachricht verkündete sich wie ein Lauffeuer und entfachte neue Kräfte. Das Ziel rückte näher und Arbeitsgesänge forderten zur Einigkeit auf. Der Gedanke an ein neues und besseres Leben durfte nicht mehr aus den Augen verloren werden.
Schon seit langer Zeit wurden Eimerketten gebildet, die den Abraum nach draussen beförderten und die wurden seit Wochen immer länger. All die Leute fehlten in den Reihen derer, die sich mühevoll durch Lehm, Steine und Wurzelwerk gruben. Fast einen ganzen Tag wäre eine einzige Person mit bloss zwei Eimern unterwegs gewesen, hätte sich nicht irgendwann diese Transportmöglichkeit entwickelt.
Und dann kam der Tag, an dem die Grabrichtung zum letzten Mal geändert wurde. Hoch über ihren Köpfen lag das Land, das künftig von ihrem Anführer regiert werden würde, was sie jedoch nicht wussten. Für sie war es bloss der Weg in das Leben, was immer schon ihr Dasein war und nie aus ihren Erwartungen und ihrem Glauben verschwand.
Die anstehende Art und Weise des Schachtbaus entsprach der gleichen wie der, mit der sie schon zu Beginn der gesamten Unternehmung starteten, bloss umgekehrt. Zwar mussten jetzt wieder Treppenstufen in die seitlichen Wände gearbeitet werden, im Gegenzug benötigten sie jedoch kein Holz mehr, aus dem sie Stützpfeiler fertigen würden.
Es war so, als erschien jeder einzelne von ihnen frohgemut, kraftvoller und motivierter, als jemals zuvor. Ein jeder hatte den Geruch des Landes, welches seine alte Heimat war und gleichsam seine neue sein wird, in der Nase und liess sich davon leiten. Zu Hause erzählte jeder davon und beflügelte die Sinne seiner Liebsten. Es gab nur noch ein Wort und das lautete: bald. Bald wird sich alles ändern und bald schon wird ein neues, ein anderes und erheblich besseres Leben beginnen.
Die Meldungen, über die täglich neu auf der Insel eingetroffenen Leute, rissen nicht ab. Befand sich neuerdings doch ein Spion darunter? Hatte die andere Seite vielleicht doch etwas bemerkt? Waren wichtige Informationen durchgesickert? Wurde die Insel möglicherweise mit mehr, als nur einem Fernrohr beobachtet? Wurde sie eventuell sogar abgehört? Aber wie und womit? War das Seil die Lösung und stellte nicht bloss eine primitive Verbindung dar? Seit es unter Strom stand, war jede direkte Berührung nicht mehr möglich, ohne dauerhafte Schäden oder auch den Tod davonzutragen und das war bekannt. Jeder Fluchtversuch, der über dieses Seil führte, endete unheilvoll. Somit war das Seil tabu. Es existierte lediglich als Einbahnstraße in den Köpfen der Insulaner. Damit wurden fast täglich die Neuen transportiert, deren Nase sich in Dinge bohrte, die irgendeine Blossstellung nach sich ziehen würde. Oder die Person war kriminell … manchmal wurde es aber auch nur behauptet, damit ein Grund zur Verbannung vorgelegt werden konnte.
Mit der gleichen Mühe sich in die Erde hineinzugraben, sollte es auch wieder an die Oberfläche gelangen.
Langsam war aber auch die Zeit gekommen, die Leute, deren Anführer er war, über seine wirkliche Identität aufzuklären. Länger konnte und wollte er sie nicht im Unklaren lassen, denn um den Thron endgültig zurückerobern und besteigen zu können, mussten sie ihm ein weiteres Mal treu zur Seite stehen. Schliesslich liess er alle zusammenrufen und hielt eine Versammlung ab, in der er ihnen diese Umstände mitteilte. Manche jubelten ihm zu und manche fühlten sich ausgenutzt und überrumpelt.
Am Ende unterlagen die Zweifler den Befürwortern. Man lag sich in den Armen und war sich voll und ganz darüber einig, dass endlich ein Weg gefunden wurde, wieder zurück in das Land zu gelangen, das in all ihren Herzen nie aufgehört hat zu existieren. Von nun an war er nicht nur ihr Anführer, sondern auch ihr König. Er blieb einer von ihnen und bedankte sich bei jedem einzelnen.
Und dann verpflichtete er sie. Zu Hause durfte niemand von der Versammlung und der neu erworbenen Kenntnis über die Gesamtlage berichten, denn diese Information könnte ebenso in falsche Ohren gelangen und damit wäre niemandem geholfen.
Da die gesamte Unternehmung keinem Zeitplan unterlag, musste keine Eile erkennbar werden. Jetzt ging es jedoch um die letzten Meter und darüber hinaus auch um die Krone. Jetzt war ein König ihr Anführer und das verlieh dem gesamten Projekt einen besonderen Rahmen. Die Wut auf den, der sich den Königsthron erschwindelte, stieg immer weiter. Ihn machten sie schon seither für ihr karges Leben auf der Insel verantwortlich. Auf ihn war ohnehin niemand gut zu sprechen.
Es war so, als könne man die Luft des Königreichs bereits riechen. Die Gewissheit, sich direkt unterhalb des Landes zu befinden, welches nur noch in Worten und Träumen zu existieren schien, war überwältigend. Nur noch wenige Meter trennten die fleissigen Arbeiter von ihrem Ziel. Den Berechnungen nach müssten sie sich unter einem unbewohnten Tal befinden, welches als Ausstiegspunkt gewählt wurde und bei dem auch keinerlei Einsturzgefahr besteht.
Dort durchzubrechen und sich Mann um Mann an die Oberfläche zu bewegen, würde keinerlei Aufsehen erregen.
Das Tal lag nördlich der grossen Stadt, an dessen Rand sich auch das Schloss und der König befanden. Aber bis es so weit sein sollte, mussten noch einige Hindernisse beseitigt werden und die stellten sich ihnen bereits seit vielen Monaten inform des hartnäckigen Erdreichs dar, das noch immer sehr mühsam in Kübeln beseitigt und verteilt wurde.
Langsam ging es voran und viele Leute machten sich schon seit etlichen Tagen nicht mehr auf den langen Weg nach Hause. Sie schliefen an Ort und Stelle. Tageweise stellten sich kaum sichtbare Ergebnisse ein, so sehr leistete der Boden Widerstand.
Vorsicht war plötzlich geboten. Stützen mussten angebracht werden, denn der Schacht drohte zusammenzufallen. Das noch zu durchbrechende Erdreich war unerwartet locker und fiel bereits stückweise herab. Prinzipiell erleichterte es zwar die Arbeit, doch es barg auch eine große Menge Gefahren in sich.
Und dann hielten es die Ungeduldigsten unter ihnen nicht mehr aus. Mit notdürftig gezimmerten Leitern aus dem Holz für Stützbalken stürmten sie nach oben, kämpften sich mit blossen Händen an die Oberfläche und krümmten und schlängelten sich an die Oberfläche.
Luft. Sie hielten die Augen geschlossen und atmeten die Gegend ein, die völlig anders schmeckte und roch als die, welche auf der Insel zugegen war. Sie breiteten die Arme aus und tanzten auf der Stelle und dann öffneten sie ihre Augen. Es war dunkel. Es war Nacht. Nur die Sterne am Himmel sahen ihnen zu.
Bedingt durch die allgemeine Begeisterung erweiterte sich das kraterartige Ausstiegsloch zunehmend. Der Gedanke wieder ins Freie zu gelangen und das geliebte Land betreten zu können, übermannte einige. Skrupellos benutzten sie ihre Kameraden als Ausstiegshilfe und stiegen einfach über sie hinweg, als stünden sie im Weg. Dieser Moment, auf den sie alle schon so lange gewartet haben, liess die meisten zu gefühllosen und brutalen Ungeheuern werden. Auch wurden einige wenige Leute von den herabfallenden Erdklumpen getroffen und ebenfalls mit in die Tiefe gerissen. Sie waren auf der Stelle tot.
Immer mehr Leute gruben sich aus dem Schacht und versammelten sich um ihren Anführer, der sie mit deutlichen Gesten zur Ruhe und Bedächtigkeit anhielt. Und dann breitete sich eine eigenartige Begeisterung aus. Es war gerade so, als herrschte Siegesstimmung, doch niemand dürfte sich darüber freuen. Da standen sie nun. In einem abgeschiedenen Teil des Landes, das wohl überall Hinterland genannt wird. Ihre Jubel- und Triumphesrufe hätte ohnehin niemand vernommen, obgleich sich die dortigen Jäger und Fallensteller auch gerne in dieser Gegend herumgetrieben haben und sie verraten könnten.
Noch konnte es nicht losgehen. Um den falschen König aus dem Schloss zu jagen, mussten sich die Mannen erst komplett fühlen, und das geschah durch die Anwesenheit ihrer Frauen und Kinder. Erst das musste noch passieren und dann erst sollte die restliche Eroberung stattfinden. Somit gingen sie durch den, von ihren eigenen Händen gegrabenen Tunnelschacht wieder zurück zur Insel, um ihre Angehörigen und das Nötigste zu holen.
Die Unverheirateten harrten an Ort und Stelle, machten sich selbst Mut, denn die Dunkelheit, das unbekannte Land und der Zustand des Verlassenseins sorgten für Unbehagen. Das Licht der Fackeln derer, die auf dem Weg zurück waren, wurde immer schwächer, bis es ganz verschwand. Bis zur Morgendämmerung dauerte es noch eine Weile und durch das schwindende Licht der Fackeln trat wieder die Dunkelheit ein, die bloss durch das Funkeln der Sterne am Firmament unterbrochen wurde. Die Stille war gespenstisch. Jedes Geräusch wurde wahrgenommen und geheimnisvoll gedeutet. Die durch die Nacht huschenden Nager und anderen Kleintiere konnten nicht gesehen, jedoch gehört werden und liessen die starken Männer zu jammervollen Angsthasen werden, die sich aneinander festhielten und sich Mut machten.
Etliche Stunden würde es bestimmt noch dauern, bis sie wieder zu der Gemeinschaft wurden, die sie noch vor wenigen Minuten waren.
Trotz des Übereinkommens, niemanden konkret über die anstehenden Ereignisse zu informieren, wussten die Frauen ständig über die Unternehmungen ihrer Männer Bescheid. Das Nötigste stand also schon fertig gepackt und stets griffbereit parat.
Der Rückweg sollte ohne Strapazen zu meistern sein und genauso gestaltete er sich auch. Kein Hindernis und keine Gegenwehr stellte sich den Leuten in den Weg. Nachdem sie den Tunnel unter der Schlucht passiert hatten, begrüsste sie der neue Tag bereits mit einigen schwachen Lichtstrahlen, die in den senkrechten Schacht fielen. Ihr Weg führte sie wieder automatisch dorthin zurück, von wo sie einst zu graben begonnen hatten. Der dumpfe Schein wies ihnen die Richtung, sodass sie auf viele Fackeln verzichten konnten.
Am frühen Nachmittag erklommen sie den einstigen Einstieg, der sie mit dem Tageslicht belohnte. Dann marschierten sie zu ihren Hütten, in denen sie ihre Familie mit aller erdenklichen Herzlichkeit begrüssten. Hell war die Freude und voller Liebe, Sehnsucht und Leidenschaft die Umarmung.
So schmerzlich es auch war, doch lange durfte sich niemand aufhalten. Nun musste alles unter hohem Tatendrang vorangehen, denn zum verabredeten Zeitpunkt sollte jeder mit seinen Leuten zur Abreise erscheinen. Wenn sie sich dann auf den Weg machen, sollte es ein Abschied für immer sein, der ihnen stets in Erinnerung bleiben sollte. Einige drehten sich noch einmal um und warfen ihrer Vergangenheit einen letzten Blick zu – manche winkten verstohlen und weinten ein paar Tränen. Für die Kinder gestaltete sich alles wie ein Abenteuer und erst als sich alle Familien komplett versammelt hatten, setzte sich das Volk in Bewegung.
Erst jetzt wurde sichtbar, was die Männer in der letzten Zeit geleistet hatten. Die in die Seitenwände geschlagenen Stufen, gestalteten sich als grosse Hilfe. Dadurch fiel besonders den Älteren der Gruppe der Abstieg in die Schächte und kilometerlangen Tunnel leichter. Jeder half jedem und ein jeder verliess sich auf den anderen. Je tiefer sie stiegen, desto dunkler wurde es. Schon bald zündeten sie wieder Fackeln an, denn je tiefer sie drangen, desto mehr schwand das Licht.
Viele Stunden würden sie wieder unterwegs sein und jeder wusste es. Langsam ging es vorwärts, denn das Gepäck erwies sich für derartige Märsche als hinderlich und liess gar keine andere Geschwindigkeit zu. Schwerlich gestaltete sich somit jeder Schritt und von Meter zu Meter wurde die Anstrengung grösser. Alles ging bloss schleppend voran und der ursprünglich kalkulierte Zeitplan konnte nur annähernd eingehalten werden.
Die erste Senkrechte war geschafft. Sie spürten wieder Boden unter ihren Füssen und gönnten sich einige Augenblicke, um zu verschnaufen. Gepeinigt von der ersten Erschöpfung traten sie nun den Weg durch den Tunnel an, der sie schnurgerade unter der Schlucht hindurchführte. Es war dieser gigantische Graben, der das Königreich von der Insel trennte und auf dessen Grund die Knochen vieler ihrer eigenen Angehörigen lagen. Diese Leute versuchten über das Seil die andere Seite zu erreichen und büssten es mit ihrem Leben.
Doch jetzt bissen sie noch einmal die Zähne zusammen und traten den Weg zurück in ihre eigentliche Heimat an.
Vielleicht würden sie ihre Häuser noch so vorfinden, wie sie sie seinerzeit verlassen mussten, als sie wegen Nichtigkeiten, haltlosen Verleumdungen oder reinen Hirngespinsten des Landes verwiesen worden waren. Dort besäßen sie dann wieder ihr altes und gewohntes Zuhause.
Auf der Insel lebten sie all die Jahre wie Gefangene, doch sie wussten, dass es nicht für immer sein würde – jetzt war der Moment ihres Sieges da und das verlieh ihnen ungeheure Kraft. Honorige Herrschaften, Advokaten und Bürger höherer Stände, gingen Seite an Seite mit denen, die sich als normales Volk verstanden, in eine Richtung. Ein eigenartiger Frieden und eine ebenso merkwürdige Einigkeit begleiteten sie, wie eine Schutzmacht.
Jeder einzelne – so stand es in der jeweiligen Begründung zu lesen – hätte sich der Bestechung, der Beleidigung der Krone oder einer anderen schwerwiegenden Tat beziehungsweise anderer unehrenhafter Delikte schuldig gemacht und könnte dieses Vergehen lediglich mit der Deportation der eigenen Person sühnen. Niemand wagte zu widersprechen und auch die Anwälte der Beschuldigten schwiegen aus Angst, selbst ein Opfer dieser Willkür werden zu können. Auch im Unrecht war der König das Recht.
Für diesen Marsch waren ursprünglich bloss Stunden eingeplant, doch es wurden erheblich mehr Pausen eingefordert. Also brachen sie einen weiteren Tag an und bewegten sich nur schwerfällig voran. Den vorausgegangenen Leuten, die im Hinterland des Königreichs auf die Eintreffenden warteten, blieb nichts anderes übrig, als in ihrer Position zu verharren. Von den Geschehnissen, die sich viele Meter unter ihnen abspielten, bekamen sie nichts mit. Nein, davon ahnten sie noch nicht einmal etwas.
So, wie es den Männern auf dem Weg zur Insel schon einmal passierte, geschah es erneut. Das Licht des Tages kämpfte sich den Weg zu ihnen. Die durch den Ausstiegsschacht eindringende Helligkeit des Tages verstand jeder einzelne wie eine persönliche Aufforderung. Es liess sich als Bestätigung dafür interpretieren, bald vor dem zu stehen, wofür es sich gelohnt hat, die Mühen und Plagen auf sich genommen zu haben. Noch hatten sie ihr Ziel nicht erreicht, aber sie konnten es bereits sehen und das setzte erneut Kräfte frei.
Und dann standen sie da und blickten hinauf zum Rand des gewaltigen Schachts. Die bereits oben auf sie Wartenden winkten ihnen zur Begrüssung zu, denn einige Geräusche liessen sie aufhorchen und vorsichtig an den Rand der Tiefe eilen.
Keiner der unten stehenden und noch immer staunenden Leute machte sich Gedanken über die zu bewegenden Erdmassen, die erst durch ihr Wegschaffen diesen Schacht, sowie die gesamte Anstrengung, die eine sehr lange Zeit dauerte, möglich machte. Die Mühen und Beschwerlichkeiten waren allen Beteiligten ständig anzusehen. Auch fiel bisher niemandem die leichte Erhöhung des Insellandes auf, auf der sich der Abraum befand. Das war gut. Denn wenn es den eigenen Leuten nicht schon aufgefallen war, dann wurde es von der anderen Seite durch die Fernrohre ebenso wenig bemerkt.
Die Ankunft war ein Fest. Endlich waren sie alle wieder beisammen und fielen sich in die Arme. Jeder schnappte sich irgendeinen Partner und tanzte mit ihm, zu nicht hörbaren Klängen. Fast lautlos ging alles vonstatten, denn sie durften nicht auffallen. Aufsehen zu erregen könnte immer noch die komplette Unternehmung umstürzen lassen. Noch war nichts gewonnen. Erst wenn der wahre König auf dem Thron sitzen würde, könnte laut gejubelt werden. So kurz vor dem Sieg wäre also jedes Risiko zu vermeiden und das wurde für jeden zur Parole.
Die Vollzähligkeit wurde geprüft. Niemand wurde vergessen, zurückgelassen oder war den Anstrengungen erlegen. Die Verletzten wurden aus den eigenen Reihen versorgt. Dann wurden die Frauen und Männer getrennt. So entstanden zwei Gruppen. Die Frauen hielten sich bis zum Morgengrauen fern der Stadt und sollten sich dann nach ihren ehemaligen Häusern umschauen. Würden sie sich in der vorherrschenden Dämmerung ihren seinerzeitigen Häusern nähern und nicht umgehend erkannt werden, könnten sie ebenso gut für Einbrecher gehalten werden und würden durch ihr Aufsehen möglicherweise den Rest des Plans vereiteln.
Die Männer schworen sich ein und traten den Marsch zur Burg an. Dort lag noch alles im Schlaf und die Dunkelheit bot ihnen Schutz. Durch die Ortskenntnisse ihres Anführers gelangte sie ohne größere Schwierigkeiten ins Innere des Schlosses. Sie bildeten kleine Gruppen und verteilten sich. Unter der Leitung ihres Anführers und späteren Königs schlichen sie zu dem Flur mit den meisten Wachen. Dort befand sich das Schlafgemach des Monarchen, den es zu stürzen galt.
Mit gezielten Hieben wurden die Wachen ausser Gefecht gesetzt. Anschließend traten sie eilig in das Gemach und griffen umgehend nach dem Schlafenden.
Der lag seelenruhig und nichts ahnend in seinem Bett. Als er unsanft geweckt wurde, erkannte er die Situation wahrscheinlich überhaupt nicht und noch bevor er einen einzigen Mucks geben konnte, wurde ihm das Kissen in den Mund gesteckt und ihm die Hände gefesselt. Nun zündeten die Männer einige Kerzen an und liessen ihren Anführer vortreten.
Da standen sie und schauten sich an. Die Bilder aus den gemeinsamen Kindertagen flatterten durch ihre Köpfe. Niemals hätte der falsche Regent und Übeltäter mit einem Überfall gerechnet, der von seinem eigenen Zwillingsbruder angeführt wurde. Und würde man ihm kein Kopfkissen in seinen Mund gestopft haben, könnte niemand die beiden unterscheiden. Sie glichen sich tatsächlich wie ein Ei dem anderen.
Es entstand der Eindruck, als wäre Eile geboten und jeder Handgriff zuvor geübt worden. Eine Gruppe hatte derweil eine kleine Kutsche mit einem Pferd an den Hintereingang bringen lassen. Dort hinein wurde der Gefesselte verfrachtet und zu der Position gebracht, an der das Seil befestigt war.
Der Weg, den bereits Hunderte und Aberhunderte Unschuldiger Leute vor ihm antreten mussten, sollte er auch gehen müssen. Er war jedoch nicht unschuldig und die Insel wartete schon auf ihn. Sie stand ihm ganz allein zur Verfügung. Niemand war mehr da. Bloss leere Hütten. Ihm böte sich dasselbe Bild, wie allen anderen vor ihm auch. Immer wieder wehrte er sich. Gegen die ihm kräftemässig überlegene Übermacht war er aber chancenlos. Nachdem er aus der Kutsche gezerrt wurde, befestigte man ihn an das Seil. Für ihn gab es nur eine Richtung: die Deportation zur Insel. Als man ihn durch die Fernrohre dort ankommen und auf das Land gehen sah, wurde das Seil gekappt.
Die Nachricht wurde so schnell es nur ging überbracht und dann war der Jubel gross. Der richtige König liess alle zusammenkommen, nahm auf dem Thron Platz und setzte sich die Krone auf. Dann rief er das ganze Volk zur Feier auf und befahl, dass sie zwei Tage dauern solle. Die Leute, deren Anführer er war, machte er zu seinen engsten Vertrauten. Sie sollten ihm einen letzten Dienst erweisen. Bevor sie sich den Feierlichkeiten hingaben, sollten sie das Loch des Ausstiegsschachts zuschütten.
Mehr zum Autor
Lutz Spilker wurde im Jahre 1955 in Duisburg geboren.
Bevor er zum Schreiben von Romanen fand, verließen bisher unzählige Kurzgeschichten, Kolumnen und Versdichtungen seine Feder.
In seinen Büchern befasst er sich vorrangig mit dem menschlichen Bewusstsein und der damit verbundenen Wahrnehmung. Seine Grenzen sind nicht die, welche mit der Endlichkeit des Denkens, des Handelns und des Lebens begrenzt werden, sondern jene, die der empirischen Denkform noch nicht unterliegen.
Es sind die Möglichkeiten des Machbaren, die Dinge, welche sich allein in der Vorstellung eines jeden Menschen darstellen und aufgrund der Flüchtigkeit des Geistes unbewiesen bleiben. Die Erkenntnis besitzt ihre Gültigkeit lediglich bis zur Erlangung einer neuen und die passiert zu jeder weiteren Sekunde.
Die Welt von Lutz Spilker beginnt dort, wo zu Beginn allen Seins nichts Fassbares war, als leerer Raum. Kein Vorne, kein Hinten, kein Oben und kein Unten. Kein Glaube, kein Wissen, keine Moral, keine Gesetze und keine Grenzen. Nichts.
In Lutz Spilkers Romanen passieren heimtückische Morde ebenso wie die Zauber eines Märchens. Seine Bücher sind oftmals Thriller, Krimi, Abenteuer, Science Fiction, Fantasy und selbst Love-Story in einem.
«Ich liebe die Sprache: Sie vermag zu streicheln, zu liebkosen und zu Tränen zu rühren. Doch sie kann ebenso stachelig sein, wie der Dorn einer Rose und mit nur einem Hieb zerschmettern.»