Das Hochstapler-Syndrom
Bild/Illu/Video: Jenny Schwarz

Das Hochstapler-Syndrom

Dann leidest du eventuell am Impostor-Syndrom (auch Hochstapler- oder Betrüger-Syndrom).


Ich persönlich finde den Begriff «Hochstapler» etwas irreführend. Gemeint ist nicht der zwanghafte Drang zum Aufschneiden oder Leute hinters Licht führen, sondern, dass Betroffene das Gefühl haben in einer Position zu sein, die sie eigentlich gar nicht verdient haben. Oder Lob für etwas zu bekommen, dass sie (ihrer Ansicht nach) nur durch Zufall oder Glück oder Beziehungen erreicht haben.

Meiner Erfahrung nach ist dieses Syndrom (in abgeschwächter Form) gar nicht so selten.


Zumindest Lob können die wenigsten gut annehmen ohne es irgendwie abzuschwächen. «Ach, das war doch gar nichts»; «Was du findest ich sehe heute gut aus? Meine Haare sind grässlich» Kommt dir das bekannt vor?


Zugegeben, Komplimente nicht annehmen können, heisst noch lange nicht, dass man das Impostor-Syndrom hat, aber es geht vom Grundsatz her in eine ähnliche Richtung. Man glaubt nicht daran, dass man irgendetwas an sich hat, das andere Menschen beeindruckend oder interessant finden könnten.

Einer der Glaubenssätze, die unter uns Menschen am weitesten verbreitet ist, ist «Ich bin nicht gut genug». (nicht schön genug, nicht schlau genug, nicht schlank genug usw)


Dieser Glaubenssatz liegt sowohl dem Komplimente nicht annehmen können zugrunde, als auch (in einer etwas verschärfteren Version) dem Impostor-Syndrom. Menschen mit dem Impostor-Syndrom glauben nicht, dass sie etwas erreicht haben, da sie talentiert, befähigt oder clever sind. Sie sind fest davon überzeugt, dass ihr Vorgesetzter sie viel zu gut einschätzt und kommen sich wie ein Betrüger vor, wenn sie mit in der Chefetage sitzen.

Ich gebe euch hierzu ein kleines Beispiel aus meinem Praxisalltag: (Name frei erfunden, Geschichte echt)


Ismir, 42 Jahre alt, ist Produktionsleiter einer grossen Firma. Er hat keine Matura gemacht und sich als ausgebildeter Handwerker schnell in der Firma einen Namen gemacht. «Wie durch Zufall» ist er alle paar Jahre weiter die Karriereleiter hochgeklettert. Bis hin zum Posten des Produktionsleiters.


Nun möchte sein Chef, dass er das komplette Werk als Geschäftsführer übernimmt. Ismir hat sich schon als Produktionsleiter unwohl gefühlt und die Vorstellung jetzt auch noch die Geschäftsführung zu übernehmen macht ihm richtig Angst. Sein Vorgesetzter möchte ihn aber unbedingt für den Posten gewinnen, da Ismir technisch unschlagbar ist, gut planen und vorausschauend denken kann und hervorragende Führungsqualitäten hat.

Was macht Ismir also? Er sagt ab. Er hat das Gefühl, dass der Personalrat und der Vorgesetzte ein völlig falsches Bild von ihm haben.


Er selbst ist nicht in der Lage seine Fähigkeiten einzuschätzen.

Woher kam das?


Ismir ist in ärmlichen Verhältnissen als Sohn türkischer Einwanderer aufgewachsen. Als einziger seines Viertels ging er auf die Kantonsschule. Bereits da, dachte er «wieso habe ich das geschafft?» In der Primarschule wurde er zuvor ausgegrenzt und ausgelacht. Er hatte keine Markenjeans, seine Eltern hatten «seltsame Vornamen» und gegessen haben sie auch anders.


Auf der Kantonsschule war sein Selbstwert («ich bin nicht so gut wie alle andern» + «Ich bin anders als andere» ein zweiter zerstörerischer Glaubenssatz) dann bereits so niedrig, dass er dachte es müsse ein Versehen sein, dass er sich qualifiziert hat.


Er brach nach anderthalb Jahren die Kantonsschule ab und machte eine Handwerkerlehre. Doch irgendetwas muss Ismir doch gehabt haben, das ihn herausragen liess. Er wurde sehr gut in seinem Fach und wurde immer wieder von anderen Firmen abgeworben und weiter befördert.


Sein Talent für planerische, menschliche und technische Fähigkeiten fiel vielen Menschen auf. Nur Ismir selbst nicht. Er dachte, es müsse sich um Missverständnisse und Fehleinschätzungen handeln. Er war einfach nicht davon überzeugt, dass er gut genug war.

Und das sehen wir auch bei vielen berühmten Menschen, die mit ihren Talenten Erfolg haben und es selbst gar nicht als besonders erwähnenswert einschätzen oder glauben einfach nur Glück gehabt zu haben. Immerhin gibt es nicht wenige Menschen, die im Rampenlicht stehen und sich betäuben müssen, um sich selbst auszuhalten.


Dabei wurde jeder als gut genug geboren. Als ein wunderbarer roher Diamant, mit Fähigkeiten und Schwächen, mit Ecken und Kanten. Aber auf jeden Fall immer gut genug. Wenn wir das erkennen, steht uns ein phänomenal gutes Leben bevor, das wir in vollen Zügen mit all unseren Möglichkeiten leben können.

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